A wie Anpassung

Ohne Anpassung geht es nicht im menschlichen Zusammenleben, aber mit der Anpassung ist es auch oft ein Kreuz. Aus der Perspektive der gesellschaftlichen Mehrheit erscheint oft ein Zuwenig an Anpassung gefährlich, da werden Abweichungen schnell pathologisiert oder gar kriminalisiert. In diesem Beitrag möchte ich den Blick auf ein Zuviel an Anpassung, so etwas wie Überanpassung, lenken oder den möglichen Preis der Anpassung thematisieren.

Die meisten von uns haben früh und effektiv gelernt, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu verdrängen, und nicht wenige benötigen dementsprechend später Therapie, um diesem unserem Wesenskern wieder näher zu kommen und gerecht zu werden. Die Verschalungen um den Kern zu lockern, das ist alles andere als leicht – und ebenso: die Schalen bei anderen zu respektieren.

Das „Kern-Schalen-Modell“ soll ursprünglich, zumindest in Ansätzen, vom Freud-Schüler Wilhelm Reich entwickelt worden sein. Freud hatte den Kern des Menschen weniger als Bündel von Bedürfnissen verstanden, vielmehr als Triebe. Von daher war ihm völlig einleuchtend, dass die Kultur die Triebe unterdrücken muss zwecks Anpassung des Individuums zu einem harmonischen Zusammenleben. Außerdem nahm er an, dass die Unterdrückung der Triebe der Kultur insofern förderlich sein könnte, dass die unterdrückte Triebenergie sich z.B. in Kunst, Sport oder in der Religion auslebt. Nur positiv?

Es war Freud manchmal ziemlich unbehaglich mit dieser erzwungenen Konformität, unter der das Feuer der Triebenergie lodert, wie seine ab 1921 veröffentlichten Schriften zur Kultur zeigen. In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ beschreibt er, wie der angepasste Einzelne dazu neigt, unterdrückte Triebe in einer Masse auszuleben. Da klopfte der Faschismus schon an die Tür – und nicht von ungefähr hat später die Kritische Theorie (Frankfurter Schule) an solche Einsichten versucht anzuknüpfen.  Doch Freud selbst schreckte davor zurück, das Thema Anpassung wirklich gesellschaftskritisch statt individualpsychologisch zu sehen. Ganz anders Wilhelm Reich, der sich nicht nur für die Befreiung des eigenen Kerns und der Triebenergien interessierte (und insofern auch einer der „Väter“ der sexuellen Revolution wurde), sondern auch politisch für Befreiung kämpfen wollte und daher bei seinem Lehrer heftig in Ungnade fiel.

Reichs Weg zu verfolgen wäre einen eigenen Beitrag oder auch mehrere wert. Kehren wir hier aber zum Kern-Schalen-Modell zurück: Vor dem Vergessen gerettet hat es wohl der Schweizer Psychiater Samuel Widmer (1948-2017), dargestellt in seiner Schrift „Ins Herz der Dinge lauschen“. Widmer, eine schillernde und auch berüchtigte Therapeutenpersönlichkeit, dazu später mehr, ging von einem bedürftigen „Wesenskern“ der Psyche aus, um den sich schon im Laufe der frühkindlichen Entwicklung durch die Erfahrungen mit der Umwelt verschiedene Schichten legen, um das Individuum vor Strafe und Liebesentzug zu schützen – um den Preis der Selbstverleugnung. In der Therapie bzw. auf dem „Rückweg zum Glück“ müsse sich der Mensch durch diese Schichten Anpassung, Abwehr und Weh-Gefühle wieder zum Kern durcharbeiten.

Entwicklungspsychologisch gesehen, beschreibt das Modell, wie das Kind von klein auf lernt, dass es nur bedingt, begrenzt, nicht nachhaltig oder im Einzelfall auch gar nicht das bekommt, was es von seiner bedürftigen Natur aus braucht – und es folgt, pointiert gesagt, dem letztlich nie eingelösten Versprechen, dass es umso mehr für seinen bedürftigen Kern bekomme, je mehr es ihn verleugne. Von innen nach außen könnte das modellhafte Bild so beschrieben werden:

  • Im Mittelpunkt oder Kern des Geschehens stehen die Bedürfnisse.
  • Auf der ersten Schale um den Kern befinden sich die Weh-Gefühle:  Wenn sie wahrgenommen und artikuliert werden (z.B. weinen, schreien), verraten sie uns und anderen, dass es um die Befriedigung der Bedürfnisse schlecht steht.
  • Die nach und nach gebildete zweite Schale ist die der Abwehr, sie hindert uns zunächst daran, gemäß der Strenge unseres Umfelds zu viel von diesen Weh-Gefühlen zu zeigen; in der Folge aber auch: sie überhaupt noch wahrzunehmen. Hier finden wir den für die Tiefenpsychologie (Freud, Reich) typischen Gedanken der Verdrängung.
  • Da wir auch durch reine Abwehr oder Verdrängung wenig bis nichts von dem bekommen, was wir wirklich brauchen, lernen wir uns weiter anzupassen, nämlich lieb und fröhlich zu sein oder so zu tun als ob, um zumindest etwas an Liebe, Anerkennung, Respekt usw. zu erhalten – auf Kosten der Echtheit.

Das Modell bildet einerseits eine Entwicklungsgeschichte ab (das „Großwerden“ des Kindes), es kann andererseits auch ohne diese Historie verstanden werden: Unter der Schale der Anpassung und des zur Schau getragenen „Mir geht’s gut“ finden wir jene Schale der Abwehr: „Passt schon, alles in Ordnung.“ Nicht selten begegnen wir in der Therapie, an dieser Grenze einer passiven Aggressivität: „Lass mich, so bin ich eben, so funktioniere ich.“ Oder andere Formen von „Widerstand“ gegen Therapie bzw. Angst vor Therapie, Angst davor, in die Tiefe zu gehen (von blödem Herumalbern bis zur Abwertung des Therapeuten oder der Klinik). Wenn sich im sicheren Kontext von Wertschätzung und Vertrauen dieser Selbstschutz lockert, stoßen wir auf „eigentliche“ Gefühle, Weh-Gefühle, die verraten, wie es um heutige oder frühere Bedürfnisse steht: Was ich wirklich brauche oder als Kind gebraucht hätte.

Therapie bedeutet häufig, sich durch die Schalen von außen nach innen vorzuarbeiten. Da die Abwehr allerdings robust und bewährt ist, geht es oft nicht voran. Hier braucht es zunächst Empathie und Respekt – und vielleicht auch das Vorbild anderer (in der Gruppentherapie) oder des Therapeuten bzw. sein tastendes Hineinfühlen, um weiter an den Kern zu gelangen. Das Tempo bestimmt der Klient. Gemeinsam können wir immer wieder lernen, dass Konflikte eine Chance darstellen: dass in den Schalen kleine Risse entstehen und wir uns tiefer wiedererkennen.

Samuel Widmer allerdings war, stark vereinfacht, der Auffassung, dass die Schalen durch Erziehung und Gesellschaft so zementiert sind, dass wir durch die üblichen therapeutischen Methoden nicht mehr zum Kern (den er allerdings auch ziemlich spirituell verstand) vordringen können. Vor diesem Hintergrund versteht sich sein Einsatz von LSD und anderen Drogen in Therapie und Selbsterfahrung, auch seine euphorische Haltung zu Gruppenerfahrungen. Hätten Sie das Kern-Schalen-Modell annehmen können, wenn ich das gleich zu Beginn über Widmer verraten hätte?

Ich plädiere nicht für den Einsatz von LSD, bin mir aber sicher, dass wir zu oft und zu schnell aus der Perspektive der Anpassung urteilen. Das ist, was wir gelernt haben: brav und vorsichtig zu sein. Für Vorsicht im Sinne von Achtsamkeit und Respekt bin ich sofort. Wir sollten jedoch jenen dankbar sein, die an den Grenzen des Konformismus immer wieder gerüttelt haben. Es ist ein konformistischer Grundirrtum, dass wer nichts Eigensinniges, nichts vom Mainstream Abweichendes macht, auch keine Fehler machen könnte. Der Preis der Anpassung ist nicht nur individuell oft hoch (denken wir etwa daran, wie viele schwule Menschen noch vor gar nicht langer Zeit dieses Lebensthema geheim gehalten haben), sondern auch in Beziehungen und für die Gesellschaft.

Literaturtipps:

Das Kern-Schalen-Modell wird gut erklärt und in seiner praktischen Anwendung erläutert bei C. Thomann, Klärungshilfe 2. Konflikte im Beruf: Methoden und Modell klärender Gespräche, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 7. Aufl. 2017.

Das grundlegende Buch von Samuel Widmer gibt es auch noch in verschiedenen Auflagen: „Ins Herz der Dinge lauschen. Vom Erwachen der Liebe.“ Wie im Text erwähnt, hat der Autor ziemlich esoterische Ansichten.

Last not least, es gibt einen Beitrag über das Finden von Lösungssätzen (für Aufstellungen) von Christiane und Holger Lier im Jahrbuch 2021 der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen mit dem Titel „Aufstellungen lernen und lehren“. Die Geschwister Lier, bei denen ich erstmals etwas vom Kern-Schalen-Modell gehört habe, zeigen hier (auch mit Grafik), wie nützlich das Modell in der Aufstellungsarbeit ist.