D wie Depression

Die Depression ist so etwas wie eine Allerweltsdiagnose, was nicht heißen soll, dass sie zu oft gestellt wird. Nur verrät sie in der Regel nicht viel über den Betroffenen. Beispielsweise kommen 90 Prozent oder mehr Patient*innen einer durchschnittlichen Psychosomatischen Klinik mit der Diagnose „mittelgradige Depression“ (oder mittelgradige depressive Episode) an, dies ist aber in erster Linie eine Art Eintrittskarte – in den Bereich der Akutkliniken zwischen ambulanter Therapie und Psychiatrie. Das „mittelgradig“ kann sich subjektiv sehr schwer anfühlen oder bei anderen Patient*innen als „eigentlich nicht so schlimm“, und dann ist da noch die Frage, ob die Betreffenden etwas mit der Diagnose anfangen können oder sich gar mit ihr identifizieren.

Gedrückte Stimmung und eine allgemeine Freud- und Lustlosigkeit, verbunden mit Antriebsmangel, das sind Symptome, die die meisten Betroffenen zeigen, die Ursachen können allerdings sehr verschieden sein. In diesem Beitrag befasse ich mich damit, wie es bei einem Teil der Patient*innen zu der deprimierten und deprimierenden Verfassung kommt. Es ist nicht neu, dass viele depressive Patient*innen mit Ängsten zu tun haben, aber häufig wird dieser „Komorbidität“ gar nicht viel Beachtung geschenkt, und noch seltener wird versucht, einen ursächlichen Bezug herzustellen – was ich hier nun wage. Meine These: Durch die Unterdrückung von Lebensängsten werden das gesamte emotionale Spektrum sowie die eigenen Bedürfnisse unterdrückt. So kommt es zu dem Grau in Grau, das manche Betroffene allerdings noch schön reden: „passt schon“, „alles okay“ usw.  Hinter der Abwehr von Angst stehen oft eine mangelnde Fähigkeit, besonderen Belastungen standzuhalten, festsitzende Ohnmachtsgefühle bzw. erlernte Hilflosigkeit. Typisch ist die Wahrnehmung: „Ich schaffe es nicht.“ Interessanterweise wird dies aber im Verlauf der Erkrankung oft auf die Depression bezogen: Ich schaffe es nicht, weil ich depressiv bin (hier liegt dann eine ungünstige „Identifikation“ mit der Diagnose vor), und nicht auf die ursprünglichen Ängste, enttäuscht zu werden oder sich und andere selbst zu enttäuschen. Es ist nicht zuviel behauptet zu sagen, in vielen Fällen werden Ursache und Wirkung vertauscht.

Einschneidende Lebensereignisse können eine Depression aktivieren, daher wird Depression oft als länger anhaltende Trauer verstanden, was aber in die Irre führen kann. Es ist nämlich auf Dauer weniger die Trauer z.B. über die eigene chronische oder unheilbare Erkrankung, über den Unfall, den Jobverlust oder den Tod des Partners, sondern vielmehr die Angst – es unter diesen Bedingungen nicht zu schaffen: das Leben – die die Dynamik bestimmt. Da die Angst aber verdrängt oder auf die Depression abgewälzt wird (ich bin ängstlich, weil ich depressiv bin), tun sich die Betroffenen oft schwer mit einer ressourcen- und lösungsorientierten Perspektive auf ihre Herausforderungen, sie klammern sich scheinbar an ihre Trauer, so kann es sich zumindest für den Therapeuten anfühlen. Ich habe schon mehrfach schwer depressive Patient*innen (von wegen mittelgradig!) erlebt, denen der Lebensmut abhanden gekommen ist, die kein Licht mehr sehen konnten und sich alles, was Licht hätte bedeuten oder Perspektive verschaffen können, abgewehrt haben – bis, und das kann im wahrsten Sinne der Durchbruch (durch die depressive Verpanzerung) sein, sie an ihre tiefsitzenden Lebensängste herankamen und diese aushalten ausgehalten konnten. Warum ist der Panzer so massiv?

Depressiv sein ist, salopp gesagt, immer noch nicht schick, aber Ängste haben für viele Betroffene noch schwieriger auszuhalten oder einzugestehen. Das dürfte allerdings nicht der Hauptgrund für die tiefsitzende Abwehr von Ängsten sein. Vielmehr geht es dabei um existentielle Ängste, also fundamentale Vernichtungs- und Verlassenheitsängste, denen sich die Betroffenen wirklich nicht stellen können – oder ihre innere Weisheit, ihre Abwehrzentrale glaubt, dass sie es nicht können. Oft handelt es sich z.B. um Menschen, die in ihrem Selbstwert gestört sind, die sich tiefsitzend unwert fühlen und ihren Selbstwert über Leistung und Anerkennung versucht haben aufzubauen. Ist dieser Weg auf einmal beschädigt oder bedroht, etwa weil durch Invalidisierung der Job nicht mehr ausgeübt werden oder weil der über alles wichtige Partner keine Anerkennung mehr geben kann (weil er/sie in irgendeiner Form abhanden kam), tritt die Depression auf. Was oft spät im Erwachsenenleben auf diese Weise passieren kann, hat seine Wurzeln noch öfter in der frühen Kindheit: Nach Verena Kast liegt die Prägesituation für diese Dynamik vermutlich im ersten Lebenshalbjahr.

Wenn das Kleinkind zu wenig gesehen und gehört wird, wenn seine Erregungen und Aufregungen nicht reguliert werden, fehlt die Basis für das Urvertrauen, auf dem sich Selbstwert bilden kann. Statt dessen bildet sich leicht eine tendenziell depressive Struktur: Betroffene versuchen, die Normen und Anforderungen zu erfüllen – leben nach der Devise „wenn ich gut genug bin, werde ich geliebt“, verwechseln Liebe mit Anerkennung. Diese Überforderungsstrategie führt möglicherweise zu großen Leistungen (auch im Bereich der Beziehungen) und eventuell zu Anerkennung, aber nicht zu Liebe. Die Verzweiflung darüber wird verdrängt und füttert den Selbstzweifel, nicht gut genug zu sein, aber auch Wut und Aggression gegen sich und andere, die wiederum abgespalten werden, und dies alles verstärkt die depressive Struktur. Für mich sieht Verena Kast dies noch etwas zu sehr durch die Brille der Anerkennung(sproblematik), vielleicht ergibt sich das in der tiefenpsychologischen Sicht. Es wäre ein eigenes Thema, auf jene Depressionen zu schauen, bei denen dies besonders zutrifft. Ich bin, bei allen Vorbehalten und mir bekannten Einwänden, immer noch ein „Fan“ der tiefenpsychologischen Rebellin und Außenseiterin Alice Miller, die an vielen prominenten Beispielen zeigen konnte, wie Mangel an Liebe des Kindes um seiner selbst willen bei Betroffenen zu einem Anerkennungswahn führt, zum lebenslangen Wechselbad von Grandiosität und Depression, bis hin zum Suizid.

Vermutlich geht es bei dem existentiellen Gefühl des Nicht-gut-genug-seins allerdings bei den meisten Betroffenen eher um den grundlegenden Zweifel an der Selbstwirksamkeit (als am Selbstwert). Es hängt alles irgendwie zusammen, gewiss. Doch mich erinnert die typische Reaktion auf besondere Belastungssituationen: „ich schaffe das nicht“ oder „ich kann das nicht“ an die therapeutische Fabel „Der angekettete Elefant“ von Jorge Bucay. Ich kann das nicht, weil ich es damals nicht konnte, als ich ganz klein war – vielleicht auch weil mir damals, als ich es noch nicht allein konnte und Unterstützung gebraucht hätte, nicht geholfen wurde. Heute allerdings bin ich eigentlich in vielen Situationen nicht dermaßen stark auf Hilfe von Bezugspersonen angewiesen, ich fühle mich aber noch so. Oder ich habe mich regelrecht darin eingerichtet, ein kleiner Elefant geblieben zu sein.

Lautet die Devise also wieder einmal „Mut zur Angst“? Jein. Wenn wir uns den Ängsten stellen, blüht unsere Gefühlswelt wieder auf, die Depression reduziert sich, unsere Beziehungen werden befriedigender, was wiederum auf Selbstvertrauen zurückwirkt. Und zwar egal, ob es mehr um mangelndes Vertrauen in die Selbstwirksamkeit oder die Sorge um den Selbstwert – die Angst, nicht geliebt zu werden, wie wir sind, bzw. auch dann, wenn wir keine Leistung bringen – geht oder um beides. Soviel Ja. Und nun zum Nein.

Es gibt nicht den „Schalter“, den man umlegen könnte, um diesen „Mut zur Angst“ zu aktivieren. Verena Kast spricht manchmal davon, als Therapeutin „hart an der Angstgrenze“ zu arbeiten – wir dürfen und können die Abwehr der Patient*innen nicht „brechen“! Gerade bei traumatisierten Patient*innen kann es nicht um Beschleunigung oder gar Konfrontation gehen. Manchmal muss erst über viele kleine Schritte das Bewusstsein für die Selbstwirksamkeit gestärkt werden. Sich der Angst zu stellen, das funktioniert nur freiwillig. Ich bin aus Erfahrung zuversichtlich, dass der therapeutische Prozess, wenn wir genug Vertrauen ineinander und gemeinsam Vertrauen in diesen Prozess aufbauen können, sich wie von alleine dahin entwickelt, wo die Angst auftaucht. Gemeinsam lässt sie sich aushalten, wenn wir als Therapeut nicht selbst Angst vor der Angst haben – und als Leiter einer Therapiegruppe dieser nicht „erlauben“, davor wegzulaufen, zu flüchten wie im wahren Leben: in Ratschläge und vermeintliche Hilfestellungen. Mit der Erfahrung des Aushaltens wird auch der Selbstwert gestärkt, denn Therapeut und Mitpatienten würdigen diese besondere Art Tapferkeit und Ehrlichkeit – und Betroffene erleben nicht selten, auch wenn es sich gar nicht gut anfühlt, „das bin wieder mehr ich“.

Literaturtipps:

  • Verena Kast: Vom Sinn der Angst. Wie Ängste sich festsetzen und wie sie sich verwandeln lassen, Herder, Freiburg 2021 (1996)
  • Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, Suhrkamp, Frankfurt 1983
  • Jorge Bucay: Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte, Fischer TB, Frankfurt 2008

Weitere Inormationen und Gedanken rund um den „Mut zur Angst“ finden Sie im Blog-Beitrag Mut.