I wie Identität

Teebeutel von Yogi-Tees tragen oft einen Spruch mit sich. Kürzlich stand auf dem kleinen Zettel: „Habe den Mut, Deine Identität zu leben!“ Mich hat das angesprochen, zum einen, da ich als „alter Philosoph“ immer noch nicht viel weiter als Kant gekommen bin und vieles von ihm für das Maß aller Dinge halte, eben auch seinen berühmtesten Spruch: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Zum andern habe ich mit Identität ein Lebensthema. Sie auch? Sie auch!

Wozu gehöre ich? Bin ich ein Wagner, ein Mann, ein Ex-Journalist, Ex-Katholik, Ex-Kommunist, Naturheilkundler, Heilpraktiker, Jazz-Liebhaber, ein Heiligenfelder, Heimatloser, Deutscher, Ungeimpfter, Senior, Vegetarier, Yogaschüler usw. – und wie wichtig ist es mir jeweils, das zu sein? Auch wenn sich die meisten Menschen solche Fragen eher selten direkt stellen, werden sie davon unbewusst beeinflusst.

„Zugehörigkeit“ scheint als Begriff relativ blass, wie Zufälligkeit. Sprechen wir dagegen von „Identität“, was eng damit zusammenhängt, hat es mehr Farbe, mehr Intensität. Ich kann irgendwo dazugehören, einfach weil ich das gleiche Merkmal wie andere habe: ein Mann sein oder eine Frau oder weder noch und sowohl-als-auch. Und ich kann mich damit identifizieren, d.h. die Zugehörigkeit als wesentlichen Teil meiner Identität verstehen oder definieren. Die reine Gemeinsamkeit begründet manchmal Zugehörigkeit, aber Gemeinschaft empfinden wir erst durch Identifikation – durch den Deutungsakt, der besagt, dass wir nicht nur zu etwas gehören, sondern etwas zu uns.

Betrachtet man das Leben der Menschen von klein auf, scheinen vier seelische Bedürfnisse besondere Bedeutung zu haben: Bindung, Autonomie, Selbstwert und Zugehörigkeit. Während die drei erstgenannten viel Beachtung finden, scheinen Zugehörigkeit und Identität manchmal vergessen zu werden.

Manch eine(r) geht einfach arbeiten, weil er (sie) so Geld verdient oder auch weil die Arbeit selbst Freude macht. Andere identifizieren sich mit dem Betrieb und sind bereit, dafür einiges einzusetzen, was über das reine Arbeitsverhältnis deutlich hinausgeht. Wie immer ist die Beurteilung, wann etwas übertrieben ist oder sich nicht stimmig anfühlt, nicht frei von Subjektivität. Dennoch lässt sich allgemein sagen, eine übertriebene Betonung von Zugehörigkeit (Identifikation) ist verdächtig dafür, dass es um andere seelische Grundbedürfnisse evtl. schlecht bestellt ist.

Menschen können mit ihrer Arbeit oder mit kirchlichem, politischem oder ehrenamtlichem Engagement geradezu „verschmelzen“ und daher z.B. „keine Zeit haben“, sich um eine Partnerschaft zu kümmern. „Verschmelzung“ gehört jedoch tendenziell in den Bereich von Bindung, Beziehung, partnerschaftliche Nähe – und das Überengagement für die Zugehörigkeit (inklusive Anerkennung) kann eine Flucht vor den Herausforderungen einer engen Beziehung sein. Nicht ganz nebensächlich erscheint in dem Kontext, dass auch das Bedürfnis nach Anerkennung mit dem nach Zugehörigkeit eng verbunden ist – gut zu beobachten bei Burnout-Betroffenen, d.h. übertriebene Identifikation mit Zugehörigkeit kann auch einen Versuch darstellen, das Selbstwertproblem zu lösen. Es klappt nur selten nachhaltig.

Wenn Patienten von der Suche nach dem Sinn im Leben sprechen, handelt es sich häufig um eine philosophische Formel für jenen Abwehrmechanismus, der verhindert zu erkennen, dass sie ihre tiefen Bedürfnisse nicht spüren und/oder nicht genug gelernt haben, dafür zu sorgen. Allerdings gibt es auch echte Sinnkrisen – und die haben dann in der Regel damit zu tun, dass sich Menschen über Jahre oder Jahrzehnte einer Sache „verschrieben“ hatten, mit ihr verschmolzen waren, und nun feststellen müssen, dass sie nicht mehr dazugehören (wollen oder dürfen), dass somit die großen Investitionen im Nachhinein als sinnlos erscheinen, wenn erst die Identifikation verschwunden ist. Dann fällt auf, wie sehr andere Bedürfnisse zu kurz gekommen sind, man hat so viel „geopfert“ (obwohl das zu der Zeit des Einsatzes meist gar nicht so erlebt wurde) – und für was jetzt, „am Ende des Tages“?!

Für den übergroßen Einsatz in der Vergangenheit gab es immer eine Legitimation: die Identifikation mit dem Guten an der Sache. Die Identifikation ist dabei so etwas wie die eigene Ideologie. Ideologie, weil kritische Fragen nach den eigenen Grundbedürfnissen und dem Versuch, sie so einseitig zu befriedigen, ausgeblendet werden. Vergessen wir auch nicht: Das übersteigerte Bedürfnis nach Identifikation lässt sich leicht missbrauchen von denen, die unsere Lebensprojekte oder Identifikationsobjekte leiten.

Es wäre jedoch fatal, Zugehörigkeit und Identität nur als Ersatzbedürfnisse oder Ersatzbefriedigungen zu sehen. Sie gehören wesentlich zum erfüllten Leben. Die Vermeidung von Zugehörigkeit und Identifikation wäre daher ebenfalls „verdächtig“. Bei manchen Menschen scheint das Bedürfnis nach Zugehörigkeit tatsächlich nur gering ausgeprägt (oder sie leben es sehr exklusiv bei ihrer Familie aus). Ich habe immer wieder Kolleg*innen erlebt, denen die Neigung zur Identifikation mit dem Unternehmen völlig abging, die immer auf Distanz gingen und der Geschäftsleitung tendenziell nur niedere Absichten unterstellten und von Ausbeutung u.ä. sprachen. Sicher, aus marxistischer Sicht beruht gewissermaßen jedes privatkapitalistische Unternehmen auf Ausbeutung. Aber darum ging es nie, die Betreffenden waren und sind keine Sozialist*innen, sondern vermittelten eher das Empfinden der ewig Misstrauischen und z.T. auch der Ewig-zu-kurz-Gekommenen, für sie reichten die Geben-und-Nehmen-Bilanz am Arbeitsplatz und das Vertrauen in die Führung nie auch nur für ein bisschen Identifikation aus.

Da Zugehörigkeit letztlich ein in der Kindheit erlerntes Verhalten ist, kann man vermuten, dass die Unfähigkeit zur Identifikation mit Zugehörigkeiten ebenfalls dort ihren Ursprung hat. Unsere Ängste und unsere Sehnsüchte bzw. tiefen Wünsche liegen meist nah beieinander. Es gibt ein Bedürfnis, eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit(en) bis hin zur Verschmelzung – und die Angst davor, verschlungen zu werden, das Eigene zu verlieren. Wie es individuell ausgeprägt ist, das hat sehr viel damit zu tun, was wir im Umgang mit den anderen seelischen Grundbedürfnissen (Bindung, Autonomie, Selbstwert) gelernt haben.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit entwickelt sich biografisch vermutlich erst später als die Bedürfnisse rund um den Selbstwert (Anerkennung, Gesehenwerden) – und ist von dieser „Basis“ wesentlich abhängig. Wer in früher Kindheit wenig Selbstwert (oder sogar wenig Bindung) aufbauen konnte, neigt eventuell dazu, im Leben nicht nur nach viel Anerkennung zu jagen, sondern auch nach viel Zugehörigkeit um (fast) jeden Preis. Um dazuzugehören passt sich der Mensch dann so an, dass die individuelle Identität auf der Strecke bleibt. Später kommt dann eventuell eine Identitätskrise: „Wer bin ich eigentlich (noch) …“, nachdem ich die Arbeit, Partei, Kirche, Partei, den Fußballverein und andere Zugehörigkeiten beendet habe? Es kann aber auch vorkommen, dass aus dem gleichen Selbstwertdefizit die Identifikation erschwert wird: weil dem Betreffenden vom Unternehmen, der Partei, der Kirche usw. nie genug Anerkennung gespendet werden kann, fühlt er keine tiefergehende Zugehörigkeit.

Zugehörigkeit und Identifikation sind für sehr kuriose Phänomene verantwortlich, wenn wir etwa die häufig unverhältnismäßige Identifikation mit einem Fußballverein  selbst bei sonst verstandesgesteuerten Menschen betrachten. Jedenfalls liefert Identifikation eine hervorragende Option zur Projektion, d.h. wir können eigene Sehnsüchte nach dem besseren Leben und dem Erfolg, z.B. nach dem Sieg von David über Goliath und viele andere Lebensthemen auf dieser Filmleinwand ausleben.

Es gibt eine faszinierende (fesselnde) Parallele zwischen den Bedürfnissen nach Bindung und nach Zugehörigkeit: Die Sehnsucht nach Liebe (Bindung) kann uns bekanntlich in Projektionen „erblinden“ lassen; in der extremen Verliebtheit sehen wir die Realität gar nicht mehr, sondern nur noch den Film, den wir selbst auf den anderen werfen, also projizieren. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit (Identifikation) kann uns in ähnlicher Weise blind machen für die Realität, wenn wir auf „unsere“ Partei, Kirche, Arbeit, Familie usw. den Film der Wünsche projizieren. Beides geht selten gut aus, irgendwann kommen Realitätsschock und Krise. Dann erweist sich, ob der Partner oder die Partei wenigstens noch „gut genug“ sind, um bei der Stange zu bleiben, oder ob wir uns „alles nur vorgemacht“ hatten.

Besonders beliebt ist die gemeinsame Projektion, weil sie dem eigenen Film noch mehr Anschein von Realität gibt. Eine gemeinsame Zugehörigkeit kann daher Nähe und Verbindung schaffen, aber auch trennen, je nachdem wie stark beide die Zugehörigkeit empfinden bzw. als Teil ihrer Identität verstehen. Wenn ich mich mit meiner Partei, Kirche oder Arbeit stark identifiziere – oder mit der psychosomatischen Klinik, in der ich Patient bin (war) 😊 –, empfinde ich Menschen, denen es genauso geht, vermutlich eher als mir nahe stehend, bis dahin, dass ich über vieles Trennende hinwegsehe. Wenn dann irgendwann die Zugehörigkeit wegfällt oder verblasst und als nicht mehr so identitätsbildend erlebt wird, endet auch der Projektionsmechanismus bezüglich des anderen Menschen und ich stelle fest, wie fremd wir uns sind und vielleicht immer waren, sofern wir von allgemeinmenschlichen Gemeinsamkeiten oder unserem göttlichen Kern absehen.

Das könnten Sie vielleicht nun als unterm Strich ziemlich desillusionierend verstehen. Ich erlebe es anders: Für mich bin ich froh, dass ich mich sehr wohl zugehörig fühlen kann, auch wenn es diesbezüglich im Leben immer mal wieder zu einer Enttäuschung führt. Ich lebe gerne so. Vielleicht liegt es aber gerade daran, dass ich nie zu 100% „verschmelze“, es gibt immer noch einen Anteil Verstand, der die Dinge versucht einzuordnen und auch warnende Hinweise sendet. Ab und zu ein wenig Kant und Desidentifikation, also Beobachter-Haltung, hat noch nie geschadet …

Apropos Kant, das habe ich ja ganz vergessen: „Habe den Mut, Deine Identität zu leben!“ Ist denn persönliche Identität etwas anderes als nur eine individuelle Kombination aus verschiedenen Zugehörigkeiten? Bin ich mehr „Eigenes“? Ich glaube schon. Zwar werden Identitätskrisen häufig von Zugehörigkeitskrisen ausgelöst, aber die Identität erschöpft sich nicht in Zugehörigkeit(en). Das heißt: Thema verfehlt? Oder: ein weite(re)s Thema. Ein andermal?

Einen Versuch wage ich noch. Identität besteht in der Überzeugung „Du bist etwas ganz Eigenes, Besonderes – und Du gehörst zu uns“. In der Du-Form habe ich es formuliert, weil diese Überzeugung, dieser Glaube in und an uns selbst, die Fähigkeit, begeistert Teil von etwas Größerem zu sein, und dabei ich zu bleiben (also sich nicht in der Verschmelzung aufzugeben), sehr früh im Leben angelegt, ermöglicht und erlernt wird. Ob „man“ das hinterher (ver-)ändern kann? Ich weiß es nicht.