E wie Eigensinn

Autonomie kommt von selbst (auto) und Gesetz (nomos), ein autonomer Mensch wäre also einer, der sich selbst das Gesetz des Handelns gibt. Das klingt schon fast wie Originalton Immanuel Kant. Tatsächlich könnte man daran kilometerweise philosophische Diskussion anschließen. Apropos Philosophie: Freiheit und Selbstbestimmung klingen doch viel besser als Autonomie. Zu diesen Begriffen gibt es eine alte philosophische Erkenntnis: Absolute Freiheit ist Chaos und totale Selbstbestimmung bedeutet Isolation. Ja, das Thema Autonomie ist groß.

Was uns Therapeuten als übertriebener Hang zur Autonomie auffällt und oft den geplanten Ablauf stört, nenne ich hier mal Eigensinn. Derart eigensinnige Patient*innen wirken oft gar nicht so autonom: Sie wollen zwar viel selbst bestimmen, aber vor allem im Widerstand, im Trotz, in der Antihaltung. Das kann mit der Phase der Therapie zusammenhängen – unbewusste Angst vor und zu Beginn der Therapie äußert sich so –, aber auch mit der Art der psychischen Erkrankung. 

Obwohl es – moralisch und therapeutisch gesehen – keine guten oder schlechten Patienten gibt, so kann man doch prognostizieren, ob der Patient eher bessere oder schlechtere Therapieaussichten hat. Patientinnen mit einer eher guten Prognose lassen sich letztlich auf eine gewisse Führung durch den Therapeuten ein, aber sicher nicht im Sinne von brav sein und alles abnicken. Wir haben es also in diesem Feld mit Paradoxien zu tun, gar nicht nur philosophisch. Schauen wir uns das an zwei Beispielen an.

Wer depressiv ist, sollte morgens aufstehen und sich in Schwung bringen – nicht die Decke über den Kopf ziehen und bis am Spätnachmittag warten, ob sich die Stimmung vielleicht bessert. (Es gibt Ausnahmen, ich weiß.) Doch typisch für die Depression ist gerade die Antriebshemmung, d.h. dass der Patient allein nicht hochkommt. Wenn ich ihn nun als Therapeut per Stundenplan „zwinge“, morgens aufzustehen und sich zu bewegen, kann es zwar sein, dass er die positive Erfahrung macht, dass sich fast jeden Morgen durch dieses Vorgehen die Stimmung aufhellt. Wenn es allerdings nur unter Zwang geschieht, wird er es möglicherweise zu Hause nicht schaffen. „Führbarkeit“ hieße hier, dass der Patient Einsicht in das therapeutische Vorgehen hat und dem zustimmt, d.h. sich aus freiem Willen dafür entscheidet und vielleicht selbst nach einiger Zeit eigenständige und weitergehende Schritte in diese Richtung unternimmt.  

Geht das auch mit komplexeren Störungen, etwa der die Anorexie (Magersucht)? „Wer anorektisch ist, sollte essen und zunehmen.“ Diese scheinbar banale Forderung ist in ihrer Einfachheit therapeutisch absurd, zumindest bei erwachsenen Patientinnen (und nur von diesen schreibe ich hier). Leider werden manche Therapieprogramme immer noch so schlicht ausgerichtet: Hauptsache Gewichtszunahme! Unterhalb eines gewissen BMI-Wertes, also bei extremem, akut gefährlichem Untergewicht, geht es aus medizinischen Gründen nicht anders, das ist aber die einzige sinnvolle Ausnahme.

Einem gewissen Anteil (nicht nur) der anorektischen Patientinnen ist es in der Therapie besonders wichtig, „brav“ zu sein, sie machen in punkto Essen und Gewichtszunahme Fortschritte – und das kann durchaus eine wichtige Erfahrung mit sich bringen: „Ich nehme zu (zunächst dem Therapeuten zuliebe oder weil ich Angst habe, entlassen zu werden), sogar über meine eigentliche rote Linie hinaus, aber so schlimm ist es ja gar nicht.“ D.h. die Vorgabe oder der sanfte Zwang sind nicht automatisch zum Scheitern verurteilt. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Erfolge nach der Klinikzeit schnell verpuffen.

Ein nach meiner Erfahrung deutlich größerer Anteil anorektischer Patientinnen fällt durch extremen Eigensinn aus. Da lässt sich sehr gut die total verdrehte Form der Autonomie beobachten: Eine subjektive empfundene hohe Therapiemotivation ist gepaart mit einer nahezu aggressiven Form von Eigensinn, z.B. in Bezug auf (selbst) verbotene Lebensmittel oder das Ausfallenlassen von Mahlzeiten oder auch in Bezug auf ihr zwanghaftes Bewegungsprogramm. Gebe ich als Therapeut diesen Patientinnen mehr „Freiheit“, wird sich die Störung den Freiraum schnappen, die gewährte Autonomie lebt sich dann als verschlimmerte Störung aus. Das kann man bestenfalls mal als paradoxes Experiment mit der Betroffenen verabreden. Zum Vergleich: Niemand würde auf die Idee kommen, einem Patienten mit massiven Zwängen in diesem Punkt mehr „Freiheit“ zu geben (z.B. dass er stets zur Therapie zu spät kommen kann, weil er zunächst noch zwanghaft Ordnung in seinem Zimmer herstellen und 50-mal das Schloss kontrollieren muss …).

Doch ein expliziter Kampf gegen den Eigensinn der Patienten ist ebenso zum Scheitern verurteilt. Es wäre tödlich für die Therapie, wenn ich versuche, den Eigensinn der Patientinnen zu „brechen“. Wir müssen ganz wegkommen vom Ringen, indem wir die Patientinnen auf sanfte Weise mit ihrer Perversion von Autonomie konfrontieren: Mich kann niemand davon überzeugen, dass man „autonom“, also frei lebt, wenn man sich an eine lange Liste verbotener Lebensmittel hält und sich täglich stundenlang damit beschäftigt, welchen Herausforderungen man aus dem Weg gehen muss, wie man Essen vermeidet, etwa wenn Mitpatienten einen zum Eis, zum Kaffee mit Kuchen oder zur Pizza einladen.

Der Kampf um Autonomie findet nicht zwischen Patienten und Therapeuten statt, sondern im Innern der Patienten! Das muss ich als Therapeut klar haben – und ihm bzw. ihr klar machen. Ich darf den Versuch, dass mir die ausgelagerte Rolle des Gegners übertragen wird, gerne immer wieder unterbinden und belasse es beim Kommentieren oder Konfrontieren der Pseudoautonomie.

Das Offensichtliche kann uns in die Irre führen. Patientinnen mit viel Eigensinn (und jetzt rede ich nicht mehr nur von anorektischen Patientinnen) haben ihr Hauptproblem in vielen Fällen nicht bei der Autonomie, vielmehr ist dies eine Stellvertreter-Thematik oder eine Art Ersatzbedürfnis. Entwicklungspsychologisch gibt es in der zeitlichen Abfolge ihres Auftretens vier seelische Grundbedürfnisse: Bindung, Autonomie, Anerkennung und Identität. Extrem ausgeprägtes Autonomieverhalten bedeutet manchmal das Gegenteil. Die Patientin ist alles andere als autonom, sie will es auch gar nicht sein, sondern sie versucht z.B. durch ihr eigensinniges Verhalten Bindung festzuhalten oder Anerkennung herzustellen (typischerweise bei den Eltern, aber auch beim Therapeuten) oder sie versucht, ihre Identität zu behaupten oder überhaupt zu erfahren – und wiederum anerkannt zu bekommen.

So könnte ein extrem ausgeprägtes Verlangen nach Autonomie darauf hindeuten, dass es auf der Beziehungsebene von klein auf schwierig war. Betroffene wollen vielleicht auf niemand angewiesen sein und sind im Miteinander ziemlich misstrauisch. Oder aber sie binden mit der Störung eine Bezugsperson (meist Elternteil) an sich oder binden die beiden Partner (Eltern) aneinander, wenn z.B. Trennung droht.

Wer wenig Sicherheit in der primären Bindung (typischerweise zur Mutter) erfahren durfte, leidet aber auch unter einer generellen Existenzangst. Und da kommen wir auch wieder zur Autonomie: Durch überzogene Autonomie in Teilbereichen (z.B. beim Essen) wird versucht, die Welt etwas mehr im Griff zu haben. Hinter der dominanten Autonomie kann also eine generelle Angst vor Verantwortung, auch vor erwachsenen Bindungen und Beziehungen stecken, eine Angst vor echter Autonomie! Eine solche Angst liegt vermutlich vor, wenn etwa die Person mit 40 noch bei den Eltern lebt oder an der Übergangsphase zum Erwachsenenleben: erst ausgezogen bei den Eltern, dann wieder eingezogen; will aber unbedingt ihr eigenes Ding machen, und sei es eben nur in der Ernährung.

In der mangelhaften Fähigkeit zu einer erwachsenen Lebensgestaltung erkennen wir Ursachen des zwanghaften Autonomiestrebens. Und was antworten diese Patient*innen, wenn wir sie damit konfrontieren: „Erst muss ich meine (z.B.) Essstörung beseitigen (die sie schon 25 Jahre haben), dann kann ich mich ums Leben kümmern …“ In der Therapie geht es darum, diese fatale Logik zu widerlegen: Betroffene können lernen und werden ermutigt, sich der Angst zu stellen, wirklich selbständig zu werden und step by step ab jetzt und sofort schon zu „leben. Die Motivation zur Veränderung ergibt sich daraus, dass sie (z.B. im geeigneten Kontext wie in der Gruppen- und Gemeinschaftstherapie) erleben, wie attraktiv es sein kann, (wirklich) erwachsen zu werden.

Therapiemotivation ist oft ambivalent, d.h. nicht eindeutig, sondern mit Abwehrreflexen verbunden, auch hier immer wieder exemplarisch zu erleben bei Essstörungen. Wenn die Einschränkungen des Alltagslebens durch die Störung groß genug geworden wird, gehen Patientinnen zwar „freiwillig“ in Therapie. Die nötige Einsicht erfordert aber: erkennen und akzeptieren, dass das Lebensmodell „Kind“ keine Zukunftsperspektive hat. D.h. ich kann zwar meine Eltern – oder auch einen Partner – noch mit 30 oder 40 Jahren so um mich kreisen lassen, als wäre ich eine Pubertierende (mit aller Ambivalenz und mit allem Trotz, der oft auch im Spiel ist), wirklich attraktiv ist das auf Dauer aber nicht. (Einschränkend muss ich sagen: Es gibt Patient*innen, die es irgendwie doch attraktiv zu finden scheinen, Kind zu bleiben.)

Erwachsene Patienten müssen wir konsequent als Erwachsene behandeln. Ich werde immer wieder spiegeln und rückmelden, wenn ich Verhalten in der Therapie oder im Leben als regressiv (unangemessen kindlich) erlebe. Ich werde immer wieder klarstellen, dass der erlebte Kampf (z.B. ums Essen bei einer anorektischen Patientin) in Wahrheit nicht zwischen mir und ihr stattfindet, sondern zwischen ihren inneren Anteilen.

Sicher gibt es Situationen, wo das innere Kind sich nach vorne drängt, gesehen werden will und vielleicht auch kindliche Bedürfnisse vorübergehend nachgenährt werden können; aber gerade dabei sollte der erwachsene Anteil der Patientin anwesend bleiben. In der Praxis ist das leichter gesagt als getan, Rückschläge gehören dazu.

Für uns Therapeuten sind übertrieben eigensinnige Patient*innen sicher eine Herausforderung. Aber wir sollten Herausforderungen lieben (lernen) 🙂 Ich finde, man kann gut den Eigensinn aufgreifen, manchmal fast beim Wort nehmen und so die Betroffenen zu mehr Eigenverantwortung einladen. Die Transformation des übertriebenen Eigensinns in eine gesunde Selbstbestimmung bedeutet: Die Patientin erfährt, wie sie mehr vom Leben bekommen kann, als sie mit seiner bisherigen Art erreicht hat. Das ist im klinischen Kontext oft einfacher als im ambulanten, aber die Bewährungsprobe besteht nun einmal im wahren Leben. Autonomie bedeutet dann tatsächlich: mit ungeschriebenen Gesetzen brechen, die zuvor geherrscht haben, d.h. es ist sogar möglich, dass das Umfeld der Patient*in diese jetzt „eigensinniger“ als zuvor wahrnimmt.