Die erste Gruppe meines Lebens war und ist meine Familie. Ich habe immer vermutet, dass meine Aktivitäten und Muster in Gruppen davon stark geprägt sind. Und damit bin ich nicht allein. In vielen Familien steckt auch nach Jahrzehnten so viel an „Gruppendynamik“ (das war mal ein Modewort, aber ich bin schon etwas älter), dass manches Mitglied an Weihnachten durch Abwesenheit glänzt, um nicht aufgesaugt zu werden. Und in manchen, z.B. therapeutischen Gruppen entstehen so schnell pseudofamiliäre Strukturen, dass es schwer ist, sie wieder loszuwerden.
Gruppen, nicht nur therapeutische, durchlaufen verschiedene Phasen: Anfangs formieren sie sich, dabei funkt und knistert es manchmal, es bilden sich Strukturen (auch zusätzlich zu den vorgegebenen), implizite Regeln werden begründet. Während die Gruppenmitglieder bewusst an ihren Themen arbeiten, arbeitet „die Gruppe“ unbewusst in allen. Zentral geht es auch um die Auseinandersetzung der Teilnehmer mit der Autorität der Gruppe und der Leitung, die dafür typischen Phasen erinnern wiederum ans Modell Familie: ein Ringen um Abhängigkeit (Bindung) und Unabhängigkeit (Autonomie).
Die reine Wohlfühlatmosphäre ist oft unproduktiv, in Therapiegruppen sowieso, aber auch in Arbeitsgruppen, dennoch muss für „Produktivität“ an erster Stelle das Vertrauen der Mitglieder in die Gruppe stehen. Irving D. Yalom, gewissermaßen der Übervater der Gruppentherapie, stellte daher vor 40 Jahren in Frage, ob die Gruppe ein geeigneter Ort für Konfrontationen ist (zumindest seitens des Therapeuten). Heute versuchen sich viele Therapeut*innen, wenn es notwendig erscheint, an einer Balance von Konfrontation und Achtsamkeit – wirklich ein Balanceakt, und ein Glück, wenn die Konfrontation aus der Gruppe heraus geschieht statt „von oben“.
Das Feedback von Gruppenmitgliedern darf also auch mal kontrovers sein, ist aber meist nur dann hilfreich, wenn der (die), der es äußert, von seinen (ihren) Gefühlen spricht, also nicht die Öffnung des Protagonisten kommentiert, sondern diese selbst zum Anlass für Öffnung nimmt. Und was hindert uns an der Selbstöffnung? Angst vor Ablehnung. Sie lässt uns „funktionieren“, in Familien und in Gruppen. Und hier bietet die therapeutische Gruppe unschätzbare Vorteile. Erfahren, dass meine Gefühle, so wie sie sind, wahrgenommen und ausgedrückt werden dürfen. Und mich verstanden fühlen, nicht selten bevor ich mich selbst richtig verstehe. Da ich mich in der Gruppe, wenn diese „funktioniert“, noch viel mehr akzeptiert fühlen kann, als wenn nur Therapeut*innen mir dieses Gefühl zu geben versuchen, bin ich in der Lage, mehr zu tieferen Gefühlsschichten vordringen.
Ja macht die Gruppe das alles von alleine? Anders herum: Wenn sie es nicht „wie“ von alleine macht und ohne die Therapeut*innen „gefühlt“ nichts ginge, dann geht es wohl ziemlich Familiy-like zu. Und es besteht die Gefahr, dass vor allem Scheinerfolge erzielt werden. Denn Vertrauen in die Gruppe beinhaltet letztlich die Überzeugung der Mitglieder, wirklich Unterstützung zu erfahren, und zwar nicht nur von Therapeut*innen, sondern wesentlich von Mitpatient*innen und der Gesamtgruppe.
Ich bin längst überzeugt davon, dass einige Selbsthilfegruppen (ohne Therapeuten) Ähnliches erreichen. Andererseits besteht in solchen Gruppen, selbst wenn sie offiziell oder formell oft „ungeleitet“ sind, nicht selten auch die Tendenz, dass sich informell feste Leitungs- oder Familienrollen etablieren. Für therapeutischen Erfolg scheint aber wesentlich, dass Rollen nicht fix an bestimmte Mitglieder gebunden sind. Dann doch lieber mit Therapeut*in … Der passende Spruch ist billig: „So viel Vorgabe wie nötig, so viel Gewährenlassen wie möglich!“ Aktives Zuwarten (watchful waiting) könnte man in Anlehnung an körpermedizinische Strategien den entsprechenden Leitungsstil nennen. Irving Yalom hat das Motto dazu geliefert: „Tu nichts, was vielleicht auch die Gruppe alleine hinbekommt.“
Übrigens ist das auch eine prima Strategie für Weihnachten oder andere familiäre Zusammenkünfte: Wenn Sie bisher das Gefühl hatten „warum muss immer ich …“, dann lassen Sie sich beim nächsten Mal überraschen, was passiert, wenn Sie nicht aktiv werden und heimlich aus der Rolle schlüpfen. „Gruppendynamik“ mag für manche Familienmitglieder abschreckend sein, dann nennen wir es eben, mit einem Schmunzeln, die „Weisheit der Gruppe“.