B wie Bedürfnisse

„Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?“ Oh, geht das schon wieder los! Entledige ich mich der Entscheidung, indem ich wie meist ein alkoholfreies Pils bestelle? 0-Prozent-Biere können sehr unterschiedlich schmecken: süß, wässrig, herb. Vielleicht ein Bitter Lemon? Das ist ja im Grunde pure Chemie. Oder einen Tee?  Da schaut mich der Kellner mitfühlend an, als wäre ich krank. Und am Ende stammt das heiße Wasser aus dem Kaffeeautomaten und der „Tee“ schmeckt danach. Also einfach Wasser? Naja, dafür geht man doch nicht aus, Wasser kann man auch zu Hause trinken. Vielleicht Sekt? Ich werde müde von Alkohol. Der Kellner war mittlerweile schon zweimal da und schaut nun besonders nachsichtig. Also dann: „Ein alkoholfreies Pils, bitte.“ Er: „Wir haben nur alkoholfreies Weizenbier.“

Geht es bei diesem Beispiel um relevante Bedürfnisse? Nein. Ob es sich bei typischen Konsumbedürfnissen überhaupt um „wahre“ Bedürfnisse handelt – darüber könnte man sowohl aus sozialkritischer als auch spiritueller Perspektive lange philosophieren. Zweifellos gibt es tieferliegende oder grundlegende Bedürfnisse. In der politischen Philosophie würde man u.a. an Freiheit, Sicherheit, Gemeinschaft denken. Aus psychologischer Sicht bieten sich an: Bindung, Autonomie, Gesehenwerden, Respekt (erfahren).

Wir würden zweifellos wahnsinnig werden, wollten wir versuchen, ständig auf unsere Bedürfnisse zu hören – das zeigt schon die Getränkewahl. Daher überlassen wir viele „Entscheidungen“ darüber, was wir brauchen, den Gewohnheiten oder eben gewohnheitsmäßig anderen Menschen. Aber wir werden auch wahnsinnig oder anders krank, wenn wir zu wenig auf die eigenen Bedürfnisse hören. Bedürfnisse wahrzunehmen, das ist tendenziell mit Konflikten verbunden. Da die wenigsten von uns Konflikte a priori lieben, banalisieren oder bagatellisieren wir häufig Bedürfnisse, die auftauchen (könnten), so ab, als ob es sich um Luxus (wie bei der Getränkewahl) handele: „Ach, nicht so wichtig, passt schon …“

Bis heute fällt es mir schwer, mit dem Essen aufzuhören, solange noch Essen auf dem Teller liegt. Ich habe gelernt, dies sei eine Sünde. Von klein auf lernen wir, dass Bedürfnisse im Streit mit Normen liegen. Ohne Normen und Werte können Menschen nicht zusammenleben, aber solange wir uns als erwachsene Individuen vor allem an Normen orientieren und uns für jede Handlung oder jeden Wunsch auf Normen berufen (müssen), haben wir noch nicht gelernt, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Das ist häufig am Beginn der Therapie der Fall: Die „Abwehr“, also die verdrängte und umgewandelte Angst, die eigenen Bedürfnisse zu spüren, ist so massiv, dass oft auf die Frage „Was brauchen Sie?“ gar nichts kommt oder sowas wie „Ich weiß nicht.“

Man sieht dann noch eher bei anderen, dass sie „maßlos“ oder „egoistisch“ sind – da ist viel Projektion im Spiel, ein eigenes Thema. Hier nur so viel: Sehr kurios bis spannend zeigt sich, wie wir bei anderen oft eher die Bedürfnisse wahrnehmen als bei uns. Und umgekehrt scheinen andere über unsere Bedürfnisse manchmal besser Bescheid zu wissen als wir selbst. Allerdings, auch dieses „Überkreuz“ kann Quelle von Konflikten sein: Wenn wir uns selbst im Weg stehen, macht es nicht unbedingt Freude, wenn andere uns den Weg zeigen wollen! Also doch sich lieber an die Normen halten wie „Der Klügere gibt nach“, „Geben ist seliger als nehmen“ usw.?

Bedürfnisse, sagt Marshall Rosenberg, der Erfinder der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), sind immer legitim. Nicht immer legitim sind dagegen unsere Strategien der Bedürfnisbefriedigung. Richtig knifflig, heikel und problematisch wird es, wenn wir Bedürfnisse mit Strategien verwechseln. Wenn ich mich z.B. nach einem anstrengenden Arbeitstag zu lauter Musik austoben möchte, so ist das durchaus legitim, dagegen ist es überhaupt nicht in Ordnung, dies im 6. Stock eines Mietshauses in die Tat umzusetzen, so dass etliche Nachbarn unter meinen wummernden Bässen und meinem Getrampel zu leiden haben. Eine „Strategie“ verfolgen bedeutet in diesem Sinne: Eine Art von Bedürfnisbefriedigung für die einzig mögliche oder wahre oder berechtigte zu halten.

Ein Beispiel mit noch mehr Sprengkraft: Wenn ich gerne (paar)tanzen gehe und dies regelmäßig „brauche“ für meine innere Balance, dann handelt es sich um ein legitimes Bedürfnis. Eine „Strategie“ im Sinne der GFK dagegen ist es, dieses Bedürfnis mit dem Wunsch nach einer fixen Tanzpartnerin zu verbinden, also z.B. meiner Ehepartnerin. Das kann allenfalls ein Wunsch sein, ein reines Bedürfnis ist es nicht, denn andere Menschen sind nicht für unsere Bedürfnisbefriedigung zuständig. Etwas therapeutischer könnte man sagen: Tun wir so, als gäbe es für ein bestimmtes Bedürfnis nur eine einzige Form der Befriedigung oder einen einzigen Menschen, der es befriedigen kann, verhalten wir uns wie kleine Kinder. Das hat auch im tiefenpsychologischen Sinn mit „Strategien“ zu tun – wie wir gelernt haben, mit Bedürfnissen umzugehen: ob wir dafür sorgen oder ob andere gefälligst (möglichst von alleine) darauf eingehen sollen.

Sicher gibt es Bedürfnisse, die wir oder die meisten von uns (nur) mit ganz bestimmten Partnern befriedigen wollen, z.B. Sexualität. Bei manchen Bedürfnissen scheint der Partner nicht verhandelbar. Und umgekehrt sollten feste Partner im Bereich wichtiger Bedürfnisse deutliche Schnittmengen aufweisen, dabei muss es nicht um Sex gehen, es könnte sich auch um spirituelle, soziale, musische oder intellektuelle Bedürfnisse handeln. Dennoch bleibt es ein sinnvoller Hinweis, dass wir als kleine Kinder zur Bedürfnisbefriedigung auf ganz fixe Bezugspersonen angewiesen waren, und dies ist ja häufig Teil der lebenslang anhaltenden psychologischen Misere. Als Erwachsene ist es unsere Aufgabe, uns in erster Linie um uns selbst zu kümmern.

Ein großer Zwischenschritt auf dem Weg des Wachstums oder Erwachsenwerdens ist der, die eigenen Bedürfnisse überhaupt zu spüren und sich den Konflikten zu stellen, die mit der Vertretung der Bedürfnisse verbunden sind. Interessanterweise wird dieses Verhalten von Menschen am Beginn der Therapie oder auch von Außenstehenden oft als „Egoismus“ verdächtigt. Bei dieser Bewertung handelt es sich in erster Linie um eine verdrehte und projizierte Angst vor der Wahrheit, eine Art Abwehr oder Widerstand gegen die eigene Innenschau. Denn das echte Kümmern um eigene Bedürfnisse dient immer dem Zusammenleben und kann, authentisch gelebt, nicht egoistisch sein: Wenn mir meine Bedürfnisse wirklich wichtig sind (und das sind überwiegend Bedürfnisse mit sozialem Bezug), sind es mir auch die der anderen. Dieser humanistische Idealismus oder Optimismus bildet die philosophische Basis der gewaltfreien Kommunikation und auch eines Großteils der humanistischen Psychotherapie.

An den kleinen Bedürfnissen und Konflikten können wir üben. Was braucht es gerade jetzt, was brauche ich, um mich (ein klein wenig) besser zu fühlen? „Ja, wenn das so ist und Sie nicht einmal alkoholfreies Pils haben, dann muss ich doch nochmal in die Karte schauen …“