Lange Zeit schien Homöopathie – und alles was man dafür hielt – ein Selbstläufer zu sein. Das hat sich geändert. Skeptiker haben mit kampagnenartiger „Aufklärung“ (oder was sie dafür ausgaben) Zweifel geweckt, offene Fragen und wunde Punkte der Homöopathie einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Vor drei Jahren vermutete ich, dass die Angriffe bald wieder nachlassen würden: „Kein Grund zur Aufregung!“ Mittlerweile habe ich mich doch ein paarmal aufgeregt :-), zumal Homöopathie-Kritiker es nicht immer so genau mit den Fakten nehmen … Viele Therapeuten, die – naja – irgendetwas praktizieren, das mit Homöopathie zu tun hat, fühlen sich unter Rechtfertigungszwang. Und nicht wenige meinen, jetzt müsse man zusammenhalten und trotz teils gravierender Differenzen die Reihen fest schließen, Kritikwürdiges gemeinsam beschweigen, gute Stimmung verbreiten usw.
Einig sind sich alle, dass die Homöopathie von Hahnemann (1755-1843) begründet wurde und dass von ihm die – nach wie vor – wesentlichen Grundlagen stammen. Er war ein Verfechter der Aufklärung, das Motto seines Hauptwerkes „Organon der rationellen Heilkunde“ (1810) lautet „aude sapere“ (oder „sapere aude“). Kein geringerer als Immanuel Kant hatte es 25 Jahre zuvor zum Leitspruch der Aufklärung erhoben: „Habe den Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Hahnemann wirkte als einer der wichtigsten Skeptiker und Kritiker seiner Zeit, nämlich der Schulmedizin. Im Vergleich zu deren spekulativen Theorien und oft hochgefährlichen Praktiken durfte er die Homöopathie mit Fug und Recht als wissenschaftliche und „rationale Medizin“ bezeichnen. Problematisch wurde es, als er in seinem Sendungsbewusstsein keine andere rationale Medizin mehr gelten lassen wollte. Nichtsdestotrotz blieb Hahnemann in dem, was er forschte, lehrte und praktizierte, immer zu 100% transparent.
Er war ein strenger Arzt und Lehrer. Seinen Patienten gab er kompromisslose Lebensregeln vor – und seinen Schülern die Devise: „Macht’s nach, aber macht’s genau nach.“ Mehr als 200 Jahre später muss man festhalten: Es gibt „die“ eine Homöopathie nicht, trotz des Engagements ihres Begründers, sondern wahrlich unzählige Varianten, deshalb kann man „sie“ weder beweisen noch widerlegen, kann man „sie“ weder als rational noch als irrational bezeichnen. Und: Es gibt auch nicht „die“ klassische Homöopathie … obwohl ich wie viele andere einige Jahre lang (in den 1990ern) dachte, ich würde genau diese lernen.
Hahnemanns Annahme und Forderung lautete: Wenn eine Fallbeschreibung aus der Praxis an 20 „echte“ Homöopathen geschickt würde, und jeder für sich allein den Fall lösen müsste, so würde am Ende 20 Mal das gleiche Medikament gewählt werden. Das hat ansatzweise funktioniert, als die Zahl der Schüler und Mittel halbwegs überschaubar war, heute ist es kaum vorstellbar. Statt damals 150 gibt es inzwischen etwa 5000 Einzelmittel. Doch noch gravierender für die „Verfielfältigung“ der Homöopathie wurde, dass prominente Nachfolger Hahnemanns die ursprüngliche Lehre modifizierten (etwa eine berühmt-berüchtigte Typen- bzw. Konstitutionslehre schufen), so dass heute zahlreiche Schulen bestehen, die sich zwar überwiegend als klassisch verstehen, weil sie Mittel individuell verordnen, aber eher selten genau so arbeiten wie Hahnemann. Was nicht heißen soll, dass Hahnemanns Arbeitsweise per se die überlegene wäre oder heute als alleiniges Handwerkszeug in einer ganzheitsmedizinischen Praxis taugen könnte.
Die Homöopathie mit Einzelmitteln ist nach naturwissenschaftlichen Standards nicht leicht erforschbar, da im klassischen Verständnis ja nicht Krankheiten, sondern Menschen mit mehr oder weniger individueller Symptomatik behandelt werden. Dennoch gibt es mittlerweile eine Reihe hochwertiger Studien zur Homöopathie, und wer sich dafür wirklich interessiert – und nicht nur Recht haben oder streiten will – der findet sie dank Internet auch relativ einfach (z.B. in Datenbanken der Carstens-Stiftung). Im Lauf der Zeit wurden einige Studiendesigns entwickelt, die einerseits den anerkannten Kriterien der Evidence Based Medicine genügen (Kontrollgruppe, Verblindung, Randomisierung), andererseits den beteiligten Ärzten eine individuelle Mittelwahl erlauben. Abgesehen von der Praxisferne der meisten Studiendesigns gibt es noch ein anderes Problem: Die „individuelle Mittelwahl“ sagt wenig darüber aus, nach welchen Kriterien sie erfolgte – welcher „Schule“ der Behandler folgt … oder ob er gar die Mittel intuitiv wählt, auspendelt oder kinesiologisch austestet …. Ebenso bleibt unklar, welche Rolle die Wahl der Potenz für den Erfolg der Behandlung spielt: Was sagt eine Überlegenheit der individuellen homöopathischen Behandlung in einer Studie, in der z. B. Mittel in C30-Potenzen zur Anwendung kamen, über andere C-Potenzen oder gar Q-Potenzen? Last not least: Von welchem Hersteller stammt das Mittel? Das Homöopathische Arzneibuch regelt zwar einiges, garantiert aber keine identische Qualität der Mittel verschiedener Hersteller – und die meisten „klassischen“ Homöopathen schwören auf ihre ganz persönlichen Favoriten. Ist das nebensächlich?
Tatsächlich konnte die Summe der Studien zur Homöopathie noch relativ wenig zu ihrer Aufklärung beitragen bzw. natürlich würde man sich als Homöopath mehr Erkenntnisfortschritt wünschen. Völlig unsinnig aber ist die Behauptung selbsternannter „Aufklärer“, die Homöopathie wäre in diesen Studien entweder samt und sonders unterlegen oder die Studien taugten nichts. Immunisierung gegen Erkenntnis gibt es auf beiden Seiten der gegenwärtigen Auseiandersetzung.
In der Homöopathie bewegen wir uns in einem riesigen Feld voller Ungewissheiten und Unsicherheiten – und zahlreichen praktischen Erfolgen, die bekanntlich auf viele Faktoren zurückführbar sind. Mit Hahnemann lässt sich vieles begründen, nur eines sicher nicht: Intransparenz. Ein Argument für Intransparenz könnte lauten: Wenn sich Patienten zu viele Gedanken über Homöopathie insgesamt oder das konkret verordnete Mittel machen, dann wirkt sie bzw. es nicht so gut. Das ist bei der Schulmedizin, ihren Methoden und Mitteln, ganz genauso. In der Praxis mag Unwissenheit auf Seiten des Patienten tatsächlich manche Vorteile haben, doch für die Theorie und Wissenschaft eines Verfahrens kann es gar nicht genug echte Kritik und ehrlichen Skeptizimus geben.
Dagegen ist es m.E. heikel, Homöopathie mit den Worten „Wer heilt hat Recht“ zu verteidigen. Wer heilt, der heilt – so weit, so gut so, und gerne: weiter so! Therapievielfalt und Therapiefreiheit sind wichtige Kriterien unseres Gesundheitssystems! Das Rechthaben können wir jedoch (Pseudo-)Skeptikern überlassen. Für mich gilt beim theoretischen oder rationalen Blick auf Homöopathie in all ihren Varianten weiterhin genau wie beim Blick auf die Schulmedizin: Sapere aude! Es kann nicht darum gehen, primär gute Stimmung für Homöopathie zu machen (ich zumindest will nichts „verkaufen“). Ich meine, dass das oft vor allem stimmungs- und marketingmäßig geprägte Vertrauen in „die“ Homöopathie vor der Zeit der „Skeptiker“-Kampagnen manchmal übertrieben war. Hahnemann forderte Sachkenntnis – auch von seinen Patienten! Wer den mündigen Patienten propagiert und fordert, dieser möge doch über die Wahl zwischen Medizinrichtungen „abstimmen“, der kann ihm auch Skeptizismus, Kritik und Aufklärung zumuten. Und der könnte ja auch darauf vertrauen, dass der mündige Patient seine eigenen Erfahrungen mit der jeweiligen Medizin ernst nimmt und mehr wissen will statt nur Verkaufs- oder Totschlagargumente. So jedenfalls bin ich zur Homöopathie gekommen.
Tipp: Kommen auch Sie zur Homöopathie … zumindest zu meinem aktuellen Vortrag am 23. Februar 2020. Ich freue mich auf Sie.