E wie Erwachen

In der Therapie erfahren viele Menschen so etwas wie einen „Weckruf“: „Fang an zu leben!“ Manchmal bringt dieser Ruf sie überhaupt in die Therapie. Allerdings wird der Beginn des neuen Lebens häufig auf irgendwann vertagt und an Bedingungen gekoppelt, die die Betreffenden nicht in der Hand haben.  Heute möchte ich mich daher mit einem Erwachen zum neuen Leben beschäftigen, das jederzeit stattfinden kann und nahezu voraussetzungslos ist.

Aus der buddhistisch inspirierten Achtsamkeitspraxis kennen viele das Erwachen als Ankommen im Hier und Jetzt – Aussteigen aus der Anhaftung an Vergangenes und Zukünftiges, Aufwachen aus den Filmen oder Träumen, die nur von Vergangenem oder Zukünftigem handeln. Leben selbst kann nur im Hier und Jetzt stattfinden. Wenn wir nach dieser Erkenntnis wirklich „leben“, dann erleben wir immer wieder ein Erwachen. Thich Nhat Hanh sagt: „Die Wirklichkeit ist schöner als der Traum, also erwache.“

Interessant daran: Dieses Erwachen bezieht sich auf die Welt der Erscheinungen, die in gewisser Weise dem Buddhismus als gar nicht existent gilt. Nichtssein oder Leersein ist die eigentliche Realität, so heißt es manchmal, aber ganz offensichtlich sollten wir das nicht so wörtlich nehmen, vor allem bedeutet es nicht, dass wir das alltägliche Leben nicht wertschätzen sollen, im Gegenteil. Das, was wir im Alltag nicht wahrnehmen oder wenn überhaupt, dann für selbstverständlich hinnehmen – dass wir atmen, dass wir gehen, dass wir essen, all das Leben, das uns umgibt –, das wird mit dem Erwachen tatsächlich in unserer Wahrnehmung zu Leben erweckt, dem wir mit fast ungläubigem und dankbarem Staunen und Wundern gegenübertreten.

Es gibt noch mindestens eine andere Art des Erwachens im Buddhismus. Sie verweist uns letztlich auf eine jenseitige Welt und hat ihren Ursprung in der Erfahrung von Leid. Nur der Schmerz kann uns auf den Weg der philosophischen oder spirituellen Erkenntnis führen, auf dem wir die Bedingtheit allen Leidens entdecken und eigenes Leiden am Leid dadurch überwinden, dass wir Weisheit und Mitgefühl entwickeln. Das Leid wird zu unserem Lehrer und Wegweiser zum wahren Glück. Das klingt fast absurd und es meint auf jeden Fall noch mehr als die verbreitete Einsicht, dass Unglück unser Bewusstsein für Glück schärft.

Durch Zufriedenheit, Glück und Einklang in der realen, alltäglichen Welt droht die tiefere Einsicht in die wahre Natur des Seins, in den Daseinskreislauf verloren zu gehen. Erst die aus dem Leid geborene Einsicht in die wahre Natur ermöglicht – aus Sicht des Buddhismus – auch wahres Glück. Der Buddha lächelt, er ist heiter, weil er die Gelassenheit gefunden hat. Nun, das wirkt schon für manchen etwas abgehoben (und wir haben Fragen rund um dieses „wahre“ Glück unter dem Stichwort „Glück“ gestellt). Aber auch wenn wir der Verheißung des wahren Glücks nicht trauen, können wir doch feststellen, dass Leid und Bewusstsein für die Allgegenwärtigkeit von Leid uns auf eine spirituelle Suche nach einem tiefen inneren Frieden führen kann.

Etwas vereinfacht könnten wir sagen: Die eine Art des Erwachens führt zu mehr Wertschätzung des Diesseits, die andere Art des Erwachens tröstet oder befriedet uns mit etwas Jenseitigem – mit der Erkenntnis, dass diese Welt nicht die einzig wahre ist und durch rein materielle oder pragmatische Handlungen nicht zu erlösen ist.

Das habe ich bewusst so bescheiden formuliert, denn ich der Sprache oder Sicht des Buddhismus geht es um das Tor zur Erleuchtung, was sich da öffnet. Mir erscheint es oft eher wie ein Notausgang: die Attraktivität eines Klosterlebens oder Eremitendaseins angesichts des Schreckens in der Welt, der Wunsch, in einer anderen Welt zu erwachen, das könnte man therapeutisch oder philosophisch auch als Eskapismus (Wirklichkeitsflucht) oder gar Todessehnsucht verstehen, nicht weit entfernt von einem christlichen Erlösungsideal.

„Ich bin so deprimiert von der Welt …“ Wer ist das nicht? Der Krieg in der Ukraine, unfassbarer Terror in Israel, die Ausbeutung von Natur und Menschen (!) weltweit, die Brutalität in unseren Gesellschaften … Wie gehen wir damit um?

  • Als mein eigener Therapeut würde ich vielleicht sagen: „Wie machen Sie das, Herr Wagner, so auf die Welt zu schauen, dass Sie deprimiert werden?“ Denn natürlich gibt es immer den eigenen Anteil an dieser „Depression“.
  • Als Philosoph würde meine Antwort lauten: „Das nennt man Realismus.“ Auch damit kann ein innerer Veränderungsprozess in Gang kommen, weil es eben nicht nur Realismus ist bzw. weil es sich nicht um die ganze Realität handelt.
  • Als spirituell suchender Berater könnte ich vorschlagen: „Nur wenn wir es zulassen, können wir es auch ein wenig mehr wieder loslassen. Wenn wir das Leid nicht leugnen oder versuchen zu verdrängen, brauchen wir uns damit auch nicht zu identifizieren.“

Soweit ist das alles für mich nicht auseinander. Je nachdem, wie akut ich das Deprimiert-sein empfinde, würde ich keinen Trost in der Theorie suchen, sondern zunächst pragmatisch z.B. einen Spaziergang machen oder eine Runde mit dem Fahrrad drehen, da gelange ich oft schon gut ins Hier und Jetzt.

In Leben und in der Therapie ergeben sich immer wieder Anstöße für beide Arten des Erwachens: der Wertschätzung des Hier und Jetzt, des Lebens einerseits, und der Transzendierung der realen Welt in einen spirituellen Freiraum. In der Therapie z.B. indem wir unsere Patient:innen aus den vielfach erzählten und nachempfundenen alten Lebensgeschichten herausholen und „Was ist jetzt?“ fragen oder auch „Wo sind Sie gerade? Kommen Sie mal mit dem Bewusstsein hierher!“ Zum andern wird uns (also auch den Patient:innen) in der Therapie immer wieder bewusst, dass niemand „geheilt“ wird im Sinne von „alles ist (wieder) gut“, dass vieles Unheilbare und Schmerzliche in unserem Leben bleibt – z.B. das Leid in der Herkunftsfamilie, das Schicksal des verpassten Lebens sowie nicht zuletzt das Leiden in der Welt – und es daher Sinn macht, sich auch für eine „höhere“ Form von Integration oder nennen wir es Erlösung zu interessieren.

Niemand außer den Erleuchteten* ist an jedem Tag und zu jeder Stunde bereit, sich diesem Erwachen zu stellen, nicht nur, weil es sehr philosophisch oder spirituell klingt und manchmal „abgehoben“ wirkt; sondern auch, weil es eine neue Art der Verantwortungsübernahme bedeutet, gegen die etwas in uns rebelliert.

„Ich will aber nicht im Hier und Jetzt sein.“ Oder: „Ich will gar nicht erleuchtet werden.“ Auch wenn es nicht so explizit formuliert wird, tritt uns diese Einstellung schon gelegentlich entgegen – und wir haben den Eindruck, der Klient ist gerade in einem eher kindlichen Zustand. Das ist okay. Doch in und durch Therapie sowie in und durch Meditation müssen wir immer wieder lernen, erwachsen zu werden, obwohl wir doch gerade dort so gerne Kind sein würden. E wie Erwachen hat also auch mit E wie Erwachsen zu tun!

Vielleicht spricht der Buddhismus eher als die monotheistischen Religionen – die mit der Autorität eines väterlichen Gottes sprechen und uns eine Kindesrolle zuweisen – erwachsene Anteile in uns an. (Aber er schließt, soweit ich es verstehe, den Glauben an einen Gott und ein väterliches oder mütterliches Behütetsein nicht aus.) Ich lerne mit der richtigen Einsicht und Praxis mich wieder zu freuen wie ein Kind, ich warte jedoch anders als ein Kind nicht mehr darauf, dass andere für mich die Steine aus dem Weg räumen oder mich an die Hand nehmen, um mich auf einen kinderleichten Weg zum Glück zu führen. Ich nehme mein „wahres“ Glück selbst in die Hand, indem ich im Hier und Jetzt zu leben beginne und gleichzeitig die hohe Schule der Gelassenheit betrete, immer wieder.

Das ist, im Unterschied zur Haltung vieler Therapieneulinge, einen „bedingungslose“ Haltung gegenüber dem Leben und der Welt. Das neue Leben beginnt jeweils jetzt. „Es gibt keinen Weg zum Glück, Glück ist der Weg. Es gibt keinen Weg zum Erwachen, Erwachen ist der Weg.“ (Thich Nhat Hanh)

(* Es gibt noch ein weiteres, drittes Erwachen im Buddhismus, manchmal auch als Erleuchtung bezeichnet: die Erlangung vollkommener Reinheit oder Vollkommenheit des Geistes. Dieses Erwachen scheint allerdings Buddhas bzw. buddhistischen Meistern vorbehalten.)

Literatur: Thich Nhat Hanh, Zum Leben erwachen. Weisheiten für eine Welt der Achtsamkeit, Pattloch, München 2020 (ein schmales Sammelbändchen mit schönen Sentenzen und Essenzen).