M wie Mut

Was macht Mut so interessant? Sein Verhältnis zur Angst. Im Alltagsbewusstsein hält sich hartnäckig der Glaube, Mut sei das Gegenteil von Angst und wenn man es schafft, irgendwie mutiger zu werden oder gar sich zu Heldentaten aufzuschwingen, verschwinden die Ängste. Und dahinter steckt der Glaubenssatz, dass ein solches Leben mit möglichst wenig Ängsten ein besseres Leben wäre.

Besonders mutig erscheinende Menschen sind nicht wirklich mutiger, das wissen wir aus der Tiefenpsychologie, sie sind nur (zweitweise) erfolgreicher dabei, ihre Ängste zu verdrängen, indem sie sich so mutig bis übermütig verhalten. Man nennt solches Verhalten „kontraphobisch“. Mit Verena Kast (siehe Literaturtipp) kann man etwas vereinfacht sagen: Mutige Menschen stehen zu ihrer Angst, Kontraphobiker verdrängen und projizieren sie – daher können sie auch oft ängstliche Menschen nicht ausstehen und bewundern Autoritäten. Die z.T. „absurden“ Phobien, die solche Menschen irgendwann dann doch entwickeln, meist in einer (evtl. verleugneten) Lebenskrise, zeigen, dass die Angst immer da war. Kontraphobisches Verhalten betrifft aber nicht nur eine übermütige Berufswahl (Verena Kast nennt z.B. Kampfpiloten), nicht nur Risikosportarten oder waghalsige Abenteuer, es kann sich auch um übermütiges Sozialverhalten handeln: z.B. als besonders forsche Kontaktaufnahme.

In der Tiefenpsychologie gilt der von der Existenzphilosophie geprägte Slogan „Mut zur Angst“ in verschiedensten Varianten, ich mag die Formel: „Wo die Angst ist, geht’s lang.“ Es geht darum, sich den zugrundeliegenden Ängsten zu stellen und herauszufinden, was ihre Botschaft ist. Für die Existentialisten war die Angst so etwas wie die zentrale Emotion, die unserem Leben Richtung und Sinn verleiht und zu Entwicklung oder, wie wir heute sagen, zu persönlichem Wachstum führt. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass hinter allen unangenehmen Gefühlen eine Art von Angst steht und dass es in der Tiefe immer um die Grundfrage(n) des Lebens geht: Lebe ich mein Leben? Lebe ich wirklich oder werde ich gelebt? Tatsächlich zeigt auch die tiefenpsychologische Analyse bzw. die therapeutische Erfahrung, dass bei Angststörungen, auch und gerade bei ihren dramatischsten Varianten wie Panikattacken mit Todesangst eine Angst vor dem Leben besteht oder anders gesagt: eine Angst davor, dass Leben, was eigentlich gelebt werden will, anzugehen. Die Angst vor dem Leben mit all seinen Herausforderungen, Wagnissen und Risiken, mit der Unvermeidlichkeit des gelegentlichen Scheiterns usw. verschiebt sich dabei auf die Angst vor dem Tod bzw. Angst vor Krebs, Aids oder neuerdings Corona. 

Lohnt es sich dann überhaupt, Mut zu „trainieren“? Auf alle Fälle. Es stärkt das Gefühl für die eigene Kraft und Macht, also allgemein das Bewusstsein für unsere Selbstwirksamkeit: zu was wir in der Lage sind und was wir erreichen können. Es hilft uns zu erkennen und immer wieder zu erinnern, dass wir mehr als einen Anteil haben, nicht nur den Angsthasen, sondern auch den in manchen Situationen Furchtlosen oder gar Wagemutigen. Allerdings lässt sich Mut nicht einfach von einer Situation auf eine ganz andere übertragen: Wenn ich Angst habe, mich in Konflikten zu artikulieren oder einen Konflikt mit nahestehenden Menschen zu riskieren, hilft mir der letzte Sprung aus 100 oder 1000 Metern Höhe – mit Fallschirm oder am Seil – ziemlich wenig. Was ich aus dem Mut-Training aber mitnehmen kann: Die Gewissheit, das Ängste nicht gleichbleibend stark erlebt werden, sondern sich verändern und reduzieren, wenn ich sie „erforsche“, wenn ich ihnen mit einer gewissen Neugier begegne. Neugier ist überhaupt ein prima Gegenmittel gegen Angst, für viele einfacher zu entwickeln als Heldenmut.

Unzählige sprachliche Schöpfungen verraten uns, wie Mut sich zeigen kann. Manchmal deutet die Verbindung mit Mut schon auf ein positives Denken: Wenn ich jemand „kleinmütig“ nenne, klingt das ganz anders als „feige“ – und ein zaghaftes Handeln ist ja nicht unbedingt feige, auf jeden Fall besser als kein Handeln. Vermutlich geht es gerade beim Thema Angst und Mut darum, die kleinen Schritte wirklich zu würdigen und zu verinnerlichen – statt große Heldentaten zu phantasieren.

In einigen sprachliche Abwandlungen von „Mut“ steht dieser wohl eher als Kurzform für „Gemüt“, z.B. bei Großmut, Edelmut, Missmut, Unmut, Wehmut oder Schwermut (für Depression). Wie ist es mit Gleichmut, Demut oder Sanftmut? Es lohnt sich schon genauer hinzuspüren. Gleichzeitig sanft und mutig zu sein? Ich bin sicher, dass dies eine sehr gute Kombination ist! Wer mutig ist, kann auch sanft sein, wer sich dagegen ohnmächtig in seiner Angst fühlt, wird schneller ausrasten – mit Panik oder Wut.

Aggression, wie wir sie meist kennenlernen, hat selten etwas mit Mut zu tun, viel eher mit dem Versuch, über Ängste hinwegzugehen. Mutig wären da gerade die sanftmütigen Alternativen: das wohlwollende Zugehen auf Menschen, die ich als schwierig erlebe und auf die ich meine Ängste projiziere, auch das Eingeständnis von Angst usw. Sehr schön finde ich in dem Zusammenhang die Formulierung „etwas freimütig bekennen“: Man nimmt sich die Freiheit heraus, einen heiklen Punkt oder eine unerwünschte Perspektive darauf anzusprechen. Last not least braucht auch das offene Sprechen über Liebe und die ehrliche Mitteilung von Komplimenten oft Mut und gewissermaßen ein Mut-Training. Selbst das bewusste Annehmen von Komplimenten kann zur Entwicklung von Mut gehören.

Das beste Gegenmittel bei Angst ist nicht Mut, sondern Gelassenheit. Ich habe dies schon in vielen therapeutischen Situationen erlebt – etwas wirklich (aus)halten zu können ist die Kunst – oder auch als Spruch angebracht, und ich war der Meinung, mir wäre diese Erkenntnis bei der Beschäftigung mit Meditation und Buddhismus zugefallen. Doch die Psychoanalytikerin Verena Kast hat die gleiche Quintessenz schon vor 25 Jahren aus der tiefenpsychologischen Beschäftigung mit der Angst destilliert, und wie erwähnt hat schon die Existenzphilosophie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Ähnliches formuliert: „Mut zur Angst“ heißt, sie zulassen und erforschen. Wir stellen uns der Angst und den Fragen, die mit ihr verbunden sind: Was will sie uns sagen? Vielleicht: „Ändere Dein Leben!“ Sich dies „anzuhören“, das braucht oft jede Menge Wut.

Literaturtipp:

Verena Kast: Vom Sinn der Angst. Wie Ängste sich festsetzen und wie sie sich verwandeln lassen, Herder, Freiburg 2021 (1996)