K wie Konflikte als Chance

Wenn ich neue Patienten kennen lerne, die schon Psychotherapie gemacht haben, frage ich meist, welche Konflikte sie dabei durchgestanden haben. Oft schauen mich die Befragten darauf völlig verdutzt an. Dann erkläre ich meine Frage etwa so: Depressionen, krankhafte Ängste und Zwänge sind bis zu einem gewissen Grad eine Folge von Konfliktvermeidung, Teil eines Abwehrmechanismus‘, der dafür sorgt, dass wir inneren und äußeren Konflikten aus dem Weg gehen. Daher sei mit das Wichtigste, was in der Therapie geschehe, das „Üben“ von Konflikten. Das will verständlicherweise zunächst kein(e) Patient(in) hören: Die einen wissen, dass sie sich ständig vor Konflikten drücken und haben Angst, die andern berichten kopfschüttelnd oder stolz, in wie viele Konflikte sie verwickelt sind, an Konflikttraining mangele es ihnen sicher nicht, doch haben sie ihre inneren Konflikte selten richtig angesehen. (Ich möchte sicherheitshalber darauf hinweisen, dass bei einem Teil von Patientinnen und Patienten nicht primär an Konflikten gearbeitet werden kann oder sollte.)

In der ambulanten Einzeltherapie lässt sich die Konfliktarbeit oft nur sehr kleinschrittig etablieren, denn da treten gleich mehrere Hemmnisse auf: Ambulant bedeutet, die meisten Klienten kommen aus dem Funktionsmodus „Alltag“ und kehren nach 50 Minuten in ihn zurück. Und in der Einzelarbeit sind wir Therapeuten in erster Linie der spezielle beste Freund, empathische Unterstützer usw. und dürfen diese Rolle nicht durch zu viel direkte Konflikte gefährden, entsprechend zurückhaltend reden wir manchmal sogar über die Konflikte, die der Klient im Leben hat (in der Sorge, mit ihm da nicht einer Meinung zu sein). Wenn aber bestimmte Konflikte im realen Leben immer wieder passieren, hat dies damit zu tun, dass darunter innere verdrängte Konflikte, z.B. zwischen Bedürfnissen und Normen aktiv sind.

In der klassischen Psychotherapie, wenn man die Psychoanalyse so nennen mag, geht es maßgeblich um Konflikte, und zwar nicht so sehr um jene offensichtlichen Dramen, die der Patient aus dem wahren Leben mitbringt, sondern mehr noch um die Konflikte, die in der Therapie selbst auftreten. Sigmund Freud dachte, im Verlauf der Analyse würden beim Patienten u.a. durch die intensive Beziehung zum Therapeuten immer wieder bisher verdrängte innere Konflikte aufbrechen und bei ordentlicher Arbeit (Spiegelung durch den Therapeuten) würde der Patient sich selbst und die Konflikte besser verstehen und sich dementsprechend später gesünder verhalten.

Heute sieht man die Möglichkeiten, in der Einzeltherapie Konflikte zu bearbeiten, etwas beschränkter: Zum einen sind die beiden Konfliktpartner nicht wirklich auf Augenhöhe, auch wenn sich der Therapeut redlich darum bemüht, und zum andern gibt es keine halbwegs neutrale Instanz, die assistiert oder vermittelt. Last not least will heute kaum noch jemand jahrelang auf der berühmten Couch liegen, bis ihm Konfliktfähigkeit und Gesundheit attestiert werden. Insgesamt hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es manchmal therapeutisch sinnvoller ist, den Patienten in seinen aktuellen Konflikten zu begleiten, als immer innere Konflikte „durchzuarbeiten“. Wobei sich das auch nicht widerspricht, sondern gegenseitig befruchtet. Beispiel: Ist der immer wieder aufflammende Streit mit dem Ehepartner vielleicht so schwierig, weil ich nicht gelernt habe, für mich zu sorgen und erwarte, der andere müsste doch von sich aus auf meine Bedürfnisse eingehen, schließlich kennt mich keiner so gut wie er? Hier geht es also darum, dass die Klientin ihren inneren Konflikt zwischen ihren Bedürfnissen (ich will bzw. ich brauche) und Normen (ich muss brav und bescheiden sein) verdrängt hat. Der aktuelle Konflikt könnte also ein „Geschenk“ sein, weil er ihr hilft sich zu entwickeln.

In der Gruppentherapie sind Konflikte mit dem Therapeuten selbst häufiger und manchmal auch ergiebiger (weil die Gruppe mit ihren Wahrnehmungen vermitteln kann), sondern es entstehen im Gruppenprozess immer neue Konflikte unter den Teilnehmern, die selbstverständlich sehr viel mit den Konfliktmustern zu tun haben, die der Patient im wahren Leben reproduziert.  Es braucht zwar eventuell Zeit, bis sich Patienten in diesem Rahmen sicher fühlen und auch etwas mehr Zuversicht in die eigenen Kräfte bekommen. Die Gruppentherapie ist dann jedoch der ideale Rahmen, um an typischen Konflikten, die uns lebenslang begleiten, zu arbeiten.

Was Ihnen im wahren Leben immer wieder passiert, etwa dass Sie von Menschen enttäuscht werden, dass Sie zu kurz kommen (oder das glauben), dass das andere Geschlecht ablehnend oder auch verängstigt auf Sie reagiert, dass Sie sich ausgenutzt fühlen, dass niemand Sie wirklich ernst nimmt (ernst zu nehmen scheint) oder Sie mag so wie Sie sind, das alles wird Ihnen relativ schnell auch in der Gruppentherapie begegnen. Aus diesen Unsicherheiten, Befürchtungen und Ängsten entsteht oft eine bestimmte Haltung in Konflikten. Hier in der Gruppe haben wir die Möglichkeit, dies alles gemeinsam zu reflektieren und aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Was sind Ihre Anteile an diesem vermeintlichen Schicksal? Wie geht es den anderen mit Ihnen wirklich – und mit Ihrem Erleben, Ihren Spekulationen und Befürchtungen? Wie können Sie Ihren Wünschen und Bedürfnissen erfolgversprechend Ausdruck verleihen?

Allerdings bedarf es für eine konstruktive Konfliktklärung im Rahmen der Gruppentherapie die Unterstützung des unparteiischen Therapeuten und öfter auch der Gruppenmitglieder, die den Betroffenen assistieren, ebenfalls ohne Partei zu ergreifen. Das Gebot der Unparteilichkeit oder Neutralität ist für viele Patienten anfangs oft nicht nur sehr überraschend, sondern fast unmöglich. Daher bin ich in diesem Punkt als Therapeut gelegentlich restriktiv, und lasse keine Vorschläge zu, wer sich jetzt im Konflikt wie bewegen, z.B. sich entschuldigen müsste. Entschuldigungen spielen eine völlig untergeordnete Rolle, sowie allgemein Moral in der Therapie meist ein Hemmnis ist, wirklich hinzuschauen, was los ist. Es braucht viel mehr Geduld, bis sich die beiden aufeinander zubewegen, und das können dann oft zunächst recht abstrakt wirkende Schritte sein wie „Wir sind uns einig, dass wir uns uneinig sind“ (kein Witz) oder „Ein Teil von mir weiß, dass Du okay bist, ein anderer Teil findet Dich total daneben“.

Viel mehr Geduld, d.h. auch: Lieber den Konflikt ungelöst und damit offen nachwirken lassen, als eine (zu schnelle) Lösung herbeizuführen. Ich habe es wiederholt erlebt, dass die Gruppe unzufrieden auseinanderging, weil viele gehofft hatten, der Konflikt würde heute gelöst, um sich verständlicherweise wieder bequem in der Harmonie einzurichten – oft ist das jedoch eine künstliche Harmonie (siehe dazu mehr im Beitrag über Konflikte in der Tiefe). Später, manchmal nach Tagen, geht es auf einmal ganz schnell. Oder die Patienten sagen erst beim Abschied aus der Gruppe (bzw. der Klinik), der Tag mit der Konfliktklärung, der damals so frustrierend empfunden wurde, sei doch ihr wichtigster gewesen. Deswegen die Frage: Welche Konflikte haben Sie in Ihrer Therapie schon durchgestanden?