W wie Wut

Was empfinden Sie spontan beim Wort „Wut“? Mit welcher Erwartung und Einstellung gehen Sie an diesen Text? Wäre etwas anders, wenn ich getitelt hätte „W wie Wutausbruch“?  Die meisten von uns sind, ebenso wie schon unsere Eltern und Vorfahren, dazu erzogen worden, Ärger und Wut zu unterdrücken und „brav“ zu sein. Dabei haben viele die gelegentlich erlebte Wut der Eltern, die damit ihr Ventil des eigenen erlittenen Unrechts öffneten, als Bedrohung erfahren – und nebenbei gelernt, wie man Wut einsetzen kann: zur Einschüchterung. Kennen Sie das vielleicht, wenn Ihre Wutausbrüche im Nachhinein für sie selbst erkennbar sind als Methode der Einschüchterung? Oder hatten Sie noch nie einen Wutausbruch?

Unterdrückte Wut, der schlummernde Ärger über kindliche Ohnmacht, Liebesentzug und ignorierte Bedürfnisse, über emotionalen und vielleicht sogar körperlichen Missbrauch, stellt ein gewaltiges pathogenes Potenzial dar, eine Quelle von Depression und Ängsten, von Abhängigkeitsmustern und Süchten sowie von körperlichen Verspannungszuständen, Schmerzen und psychosomatischen Beschwerden. Und sie birgt das Risiko für ein Ausbrechen des Vulkans im Moment X. Die Wut zu entdecken und als eigenen Anteil auszuhalten, ist daher bei vielen Patient*innen ein Meilenstein der Therapie. Und natürlich war es für die Psychotherapie zunächst naheliegend, das Ausagieren der Wut positiv zu bewerten.

Wenn wir Grenzüberschreitungen erleben, Verletzungen und Ungerechtigkeit, ist Wut ein authentisches Gefühl und kann uns im Akutfall helfen, uns effektiv zu wehren: Der Löwe in uns brüllt zurück! Haben wir unser Ziel erreicht, war unsere Notwehr erfolgreich, kann die Wut verrauchen, Körper und Geist regen sich (im Idealfall) nach und nach ab – falls wir ein gesundes Verhältnis zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen entwickelt haben, vielleicht im Rahmen einer Therapie. Es kann durchaus sein, dass es dazu hilfreich war, die Wut körperlich spüren zu lernen und sogar umzusetzen: z.B. auf Kissen oder Matratzen trommeln und schreien.

„Raus damit!“ war früher die Devise in einigen Richtungen der Psychotherapie: „raus! raus! raus!“ Doch Ärger immer ungebremst oder gar rauschhaft gesteigert rauslassen, und das fast ritualisiert, das wird heute eher als bedenklich gesehen. Wer gewohnheitsmäßig „das Ventil öffnet“, tendiert dazu, auch in realen kritischen Situationen sich selbst oder andere zu gefährden (was aber ebenso bei komplett unterdrückter Wut passieren kann). Diese Erfahrung deckt sich mit den Erkenntnissen der buddhistischen Psychologie: Das ständige Ausagieren führt kurzfristig zum Abbau von Wut, in der Nachreaktion wird sie dadurch jedoch „genährt“. Letztlich geht es daher darum, nicht die Wut, sondern den inneren Frieden wie eine Pflanze zu kultivieren. 

Mit heftigen Emotionen konstruktiv umgehen, so lehrt der Buddhismus, heißt diese weder zu verdrängen noch sie hemmungslos auszuagieren, sich weder mit der Emotion zu identifizieren („anhaften“) noch sie zu leugnen. Darin besteht die sog. Weisheit des mittleren Weges: Während ich etwas zulasse und forschend aushalte, kann ich es auch schon ein bisschen loslassen. Empfohlen wird, dies immer wieder „in ruhigen Zeiten“ zu üben, um es im Orkan der Gefühle aktivieren zu können.

Wenn Ihnen der „mittlere Weg“ zu philosophisch oder spirituell erscheint, könnten Sie das Thema noch aus der Perspektive der Gewaltfreien Kommunikation betrachten, ihr „Erfinder“ war zunächst Psychotherapeut. „Ärger ist ein wichtiges Alarmsignal“, sagt Marshall Rosenberg. Ärger unterdrücken, das wäre demnach so, als wenn wir eine Alarmleuchte im Auto ignorieren oder gar das Lämpchen rausdrehen würden. Wir sollten dem Alarm besser auf den Grund gehen. Übung in Gewaltfreier Kommunikation (GFK) kann uns helfen, unterscheiden zu lernen zwischen dem Auslöser des Ärgers und der Ursache: Nicht wie andere Menschen agieren macht uns ärgerlich, sondern wie wir innerlich darauf reagieren, unsere Bewertung der Handlungen anderer.

Laut GFK kommen wir in Konflikten nur weiter, wenn wir unsere Bedürfnisse wahrnehmen können. Doch solange unsere Gedanken bei der Bewertung des anderen sind, können sie nicht bei unseren Bedürfnissen sein. Und:  Manchmal ist genau dies der „Zweck“, wir regen uns über andere auf, weil wir an unsere Bedürfnisse nicht heran „wollen“ oder können. D.h. die Wut ist zwar „authentisch“, aber den Schmerz und die Angst darunter gilt es zu erforschen!

„Wenn wir direkt verbunden sind mit unseren Bedürfnissen, sind wir niemals (!) wütend“, meint Rosenberg. Und das soll sogar auch im Umkehrschluss gelten: „Ich behaupte wirklich, dass immer, wenn wir wütend sind, wir keine Verbindung zu unseren Bedürfnissen haben.“ Was bedeutet das ganz praktisch? Sobald wir Ärger spüren und vor Wut kochen, sollten wir uns erstmal ein Timeout nehmen, durchatmen oder durch Aktivität (Sport, Tanzen o.ä.) den Stress abbauen. Erst danach können wir, zumal mit etwas Übung, Kontakt zu unseren wahren Bedürfnissen bekommen, und es werden sich andere Gefühle als Wut einstellen: häufig Angst und Trauer, evtl. aber auch eine Art „Trauerfreude“, sogenannte gute Tränen, die mit der Erkenntnis verbunden sind, was wir uns eigentlich wünschen. Wenn wir uns dafür engagieren, kann die Wut in eine starke Kraft transformiert werden. Man sollte es nach meiner Erfahrung aber nicht gleich bei den persönlich schlimmsten Wut-„Baustellen“ ausprobieren.

PS. Persönliche Nachbemerkungen aus aktuellem Anlass

Bin ich „eigentlich“ Pazifist? Das habe ich mich schon oft in meinem Leben gefragt. „Eigentlich“ heißt: Was gehört denn dazu? Kurz vor meinem Abitur habe ich den Kriegsdienst an der Waffe verweigert, Unterschriften gegen Atomraketen (und für Bürgerbegehren) gesammelt, und ich bin danach noch jahrelang mit Friedenstauben auf den Taschen herumgelaufen. Auf der anderen Seite hat mich zu viel unterdrückte Wut 2009 in die eigene Psychotherapie geführt.

Seit einigen Jahren hat sich mein Friedensengagement mehr in therapeutische Arbeit verlagert, und ich versuche außerdem eifrig Werbung für die Gewaltfreie Kommunikation zu machen. Es geht dabei zunächst nicht um Empathie für andere oder gar „Gegner“, es geht um Empathie für uns selbst. Und doch habe ich auch heute ab und zu einen Wutausbruch, der mir danach in der Regel ziemlich peinlich ist.

Im vergangenen Jahr habe ich mich oft über das Corona-Regime und die ganze monothematische Angst-Inszenierung geärgert, mich immer wieder gefragt, was steckt vielleicht „noch“ hinter meiner Wut und wie gehe ich generell konstruktiver mit Wut um? Nun, Ich habe noch keine abschließenden Antworten gefunden. Fest steht für mich jedoch: Es gibt keinerlei Rechtfertigungen für die teils menschenverachtende Sprache auf beiden Seiten der Corona-Front. Für mich ist schon #StayTheFuckAtHome indiskutabel, erst recht die im wahrsten Sinne des Wortes unsäglichen Verbalinjurien in Foren wie „Corona ist nicht das Problem“. Wer Menschen bildhaft an Galgen hängt, kann m.E. nicht für das kämpfen, was unsere wahren menschliche Bedürfnisse ausmacht. Wahrscheinlich hat er (oder sie) noch keinen Kontakt zu seinen (ihren) Bedürfnissen.

Literaturtipps:

  • Marshall Rosenberg: Living Nonviolent Communication, Sounds True 2012 (besonders das Kapitel “The Surprising Purpose of Anger”)
  • Stefanie Carla Schäfer: Wut. Das Tor zu deiner Kraft, Scorpio 2020 (mit vielen praktischen Übungen)
  • Thich Nhat Hahn: Ich pflanze ein Lächeln, Goldmann 2019 (ursprünglicher Titel „Peace is Every Step“)