Von Yoga haben die meisten mehr oder weniger vage Vorstellungen. Und wer sich näher damit befasst oder gar praktiziert, erfährt recht bald, dass es möglicherweise und „eigentlich“ um etwas ganz anderes geht als (nur) die körperliche Praxis, die Sonnengrüße und Asanas: „Yoga ist ein Prozess, in dem sich ein umherschweifender Geist in einen zentrierten verwandelt, ein bedürftiger in einen zufriedenen, ein genusssüchtiger in einen erfüllten.“ (A. G. Mohan, siehe Literatur)
Yoga hat mich wegen der scheinbar erforderlichen Beweglichkeit und Sportlichkeit lange abgeschreckt. Es sieht oft so nach gymnastischer Hochleistung aus. Außerdem habe ich unangenehme Erfahrungen mit Atemtechniken gemacht, die mir, als ich in meinen 40er Jahren unter chronischer Bronchitis litt, als Yoga-Atem nahegebracht wurden. Ja, Atempraxis spielt im Yoga eine große Rolle, allerdings ist es dabei keineswegs immer so eindeutig, wie das aussehen sollte. Man sollte vorsichtig sein, sich zu irgendeiner Technik zu zwingen.
Dann hatte ich das Glück, über eine Schnupperstunde in ein Yogastudio zu gelangen, wo ich als „gut genug“ abgeholt und für den Yoga-Weg begeistert wurde: die Yoga-Insel in Würzburg. In diesem Prozess, der mich letztlich selbst zum Yoga-Lehrer „gemacht“ hat, habe ich viele interessante Grenzerfahrungen erlebt und verarbeitet.
Du kennst Deine Grenzen erst, wenn Du sie überwindest. Ein schöner Spruch. Mit Vorsicht zu genießen. Man sollte im Yoga seine Grenzen respektieren und achtsam mit ihnen umgehen, zunächst mal mit den körperlichen Beschränktheiten, aber man kann Grenzen erweitern. Das gilt auch im übertragenen Sinn: Es ist ein Glück oder ein wesentlicher Faktor von Lebensglück, wenn man seine Grenzen akzeptieren kann, und es ist ebenso ein Glück, wenn man den Mut hat seine Grenzen zu erweitern. Beides ist (fast wie) antidepressive Therapie 😊
Der Yogi strahlt Güte, Frieden und Glückseligkeit aus. Er hat es vielleicht einfacher, dahin zu gelangen, weil er seine Praxis hat, der Weg, der ihn dahinführt. Leicht ist der natürlich auch nicht immer oder sogar eher selten, aber leichter – leichter als ohne Praxis, ohne Wegweiser. Die umfassende Praxis wird als der achtstufige Pfad des Patanjali bezeichnet, nach dem Verfasser des Yogasutra (siehe Literatur). Die Basis der Praxis bilden quasi moralische Regeln oder Tugenden, wie ich mit mir selbst und meinen Mitmenschen umgehe, angefangen mit der Gewaltlosigkeit oder Sanftmut (ahimsa). Dann kommen die körperlichen Übungen (asana), die uns für die Atemarbeit (pranayama) vorbereiten, welche wiederum die Vorbereitung für verschiedene Stufen der Konzentration, Mediation und Erleuchtung sind.
Im Yoga-Alltag der meisten von uns scheinen die körperlichen Übungen die Hauptrolle zu spielen, manchmal mit einer Atempraxis verbunden. Tatsächlich fällt es mir mit der Disziplin zur körperlichen Praxis leichter, ausgeglichen und zufrieden den Tag zu beginnen. Wenn ich mal alternativ ums Dorf jogge, bin ich meist anschließend auch stolz und wohlig erschöpft und habe das Gefühl, mir Frühstück und Duschen verdient zu haben. Aber Yogapraxis ist anders, ich verausgabe mich nicht, finde eine Balance, von Anstrengung und Ruhe, komme zu mir, und freue mich, dass ich meine Grenzen erweitert habe.
Es gibt viele (Hundert) Asanas, aber das braucht es gar nicht. A. G. Mohan nennt seine Liste mit knapp zwanzig Asanas „vollständig“, weil sie, auch durch Variationen derselben, die wesentlichen Aspekte abdeckt und an jedes Individuum und an jeden aktuellen Zustand angepasst werden kann. Das passt auch zu Mohans Grundaussage: asana im Singular (die Haltung) ist wesentlich wichtiger als asanas im Plural (die einzelnen Positionen).
Etwas detaillierter werden bewährte Haltungen in dem Buch von Tara Frazer (siehe Literatur) erklärt und bebildert, hier gibt es zu jedem asana auch eine gemäßigte Variante für Einsteiger und körperlich eingeschränkte Schüler*innen. Im Grunde könnte man sich eigene Asanas und Abfolgen basteln und bauen, sofern (!) man das Grundverständnis von Yoga erworben hat – aber das ist dann doch komplexer, weshalb es sich empfiehlt, Yoga bei guten Lehrerinnen und Lehrern zu erlernen.
Das richtige Maß zu finden, dafür muss man vermutlich auch etliche Male über seine Grenzen gegangen sein (und andererseits manchmal zu sehr in der Komfortzone verweilt haben …). Eine gute Yogapraxis kann schon mal (heraus-)fordernd sein, sie sollte sich aber immer angenehm anfühlen. Der Atem ist dabei ein wichtiges Feedback – anders als beim Lauf um Dorf sollten wir nie ganz „aus der Puste“ kommen (sollte man ja eigentlich auch beim sinnvollen Lauftraining nicht), vielmehr will Yoga über die Beachtung des Atems den Geist konzentrieren, Körper und Geist integrieren. Ein unbeständiger und unkontrollierter Atem zeigt, dass unsere Praxis gerade nicht wohlüberlegt ist. Und wenn die Gedanken abschweifen und wir die Atmung gar nicht wahrnehmen, üben wir ohne Konzentration, das ist (streng genommen) kein richtiges Yoga.
Richtig und falsch … Hm. So streng will ich nicht – ständig – sein. Wer mich kennt, kennt oft auch meine Sprüche, etwa die vom Heilsamen Singen: „Es gibt keine Fehler, nur Variationen.“ Jedoch, so wie es beim Singen immer eine Melodie und eine Harmonie gibt, die sich die Erfinder*innen ausgedacht haben, so gibt es auch beim Yoga einen Roten Faden, den wir verstehen sollten, bevor wir drauflosgymnastizieren oder yogasporteln.
Das „Ergebnis“, das wir in der abschließenden savasana-Haltung, im Ruhen und Nachspüren erfahren, lehrt uns viel: Wir können uns nach einer guten Yogapraxis stark, stabil und flexibel fühlen. Und ausgeglichen, bereit für die Meditation oder für das Leben. Und mit dem Wunsch auf mehr Yoga. Es braucht Disziplin und die wiederkehrende Erfahrung, dass diese sich lohnt.
Literatur
A. G. Mohan, Yoga – Rückkehr zur Einheit. Integration von Körper, Atem und Geist, Via Nova, Petersberg 2019
Tara Fraser, Ashtanga Yoga für Einsteiger. Schritt für Schritt zu neuer Energie, Trias, Stuttgart 2011
Patanjali, Das Yogasutra. Von der Erkenntnis zur Befreiung. Einführung, Übersetzung und Erläuterung von R. Sriram, Arkana, München 2024
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