Z wie Zugvögel

Wir sind wie Zugvögel,
die, an einem fremden Ort geboren,
doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden,
eine Sehnsucht
nach der frühlingshaften Heimat,
die sie nie gesehen haben.

(Ernesto Cardenal)

Meine Mama ist gestorben. In diesem August 2024.

Im Regal ihres Wohnzimmers hatte sie den Text von Ernesto Cardenal, in ihrer Handschrift, aufgestellt, schon vor mehr als zwei Jahren, aber ich habe das Blatt erst jetzt entdeckt. Dabei war und ist es schon viele Jahre mein liebstes Trauergedicht.

Der Körper ist schwer, die menschliche Seele oft ebenso, wenngleich nicht physikalisch, sondern eben psychisch. Doch die göttliche Seele (oder auch Geist genannt), die in jedem von uns „wohnt“, ist leicht und erhebt sich wie ein Vogel zum Himmel, das ist eine spirituelle Basiserfahrung und die letzte Hoffnung für uns alle; daher findet man Vögel so oft in Traueranzeigen.

In der Traueranzeige für meine Mutter haben wir stattdessen eine Blüte gezeigt, da meine Mutter zu Natur, Garten und Pflanzen ein besonderes Verhältnis hatte (und auch, weil das durchaus poetische Bild der „welken Blüte“ oder des „welken Blatts“ sie fasziniert hat, sie hatte sich z.B. entsprechende Zeilen von Hermann Hesse mehrfach abgeschrieben).

Ich habe meiner Mutter über Jahre oder Jahrzehnte Blumen mitgebracht, wenn ich zu Besuch kam, mal wieder nach einem Monat oder zwei. Ich mag mich nicht mit fremden Federn schmücken: Meine Frau hatte mir das frühzeitig beigebracht (glücklicherweise) – in irgendeiner Sprache muss man seine Liebe ausdrücken, wenn sonst die Worte oft fehlen. Warum nicht mit Blumen!

Beim letzten Blumenstrauß, den ich ins Pflegeheim brachte, war uns beiden klar, dass es eben der letzte im Leben sein würde, und ich sagte: „Mama, den nächsten wirst Du Dir von oben anschauen …“ Mit meiner Mutter konnte man über alles offen reden und sogar mit schwarzem Humor, aber was heißt da schon „schwarz“? Auf der anderen Seite hatte sie wohl ihre Geheimnisse, und daher werde ich hier auch nicht zu viel von ihr verraten.

Jegliches hat seine Zeit. Aber woher wissen wir, dass sie gekommen ist? Meine Mutter hatte in den vergangenen vier Jahren mehrmals gravierende Ereignisse (z.B. Herzinfarkt, Schulterbruch, Hirnblutung) erlebt, wo sie und wir uns nicht sicher sein konnten, „ob es das jetzt war“. Es ging aber immer weiter, solange sie noch – oder mit etwas Anlauf wieder – gehen konnte.

Beim und nach dem letzten Sturz vier Wochen vor ihrem Tod hat sie feststellen müssen, dass sie ihre Füße nicht mehr zum Gehen bewegen kann. In meiner Wahrnehmung war dies der Wendepunkt. Da hat sie sich entschieden, ganz zu „gehen“. Aber wie geht das? „Das bringt einem ja niemand bei“, meinte sie mit einer Mischung aus Humor, Angst, auch leisem Protest. Sie war mit wenigen Ausnahmen immer leise.

„Warum holt mich keiner ab, um über … zu gehen?“ Sie meinte, wie wir beide mit ein wenig Überlegung herausfanden, „… um über den Jordan zu gehen“. Sie hat es dann hingenommen, dass sie durch den Jordan selbst schwimmen muss! Daran war gar nichts vogelhaft Leichtes, es bedeutete härteste körperliche Arbeit, fast eine Woche lang, nachdem sie das Essen (nicht verweigert, sondern) eingestellt hatte.

Für sie konnte und kann ich in dem langen, zähen Ringen oder Schwimmen keinen tieferen Sinn erkennen. Vielleicht lag er darin, dass wir Kinder, die viel bei ihr waren in den letzten Tagen, lernen konnten, uns zu entspannen und auch vom Gefühl her soweit loszulassen, um am Ende „endlich“ sagen zu können. Das Ende selbst, das Ankommen am andern Ufer, war wohl friedlich.

„Sie ist gestorben, wie sie gelebt hat.“ So etwas hört man manchmal. Es ist sicher selten die ganze Wahrheit, aber auch hier trifft sie zu: Meine Mutter war eine unglaublich tapfere Frau, ihr Leben lang. Sie hat keine Bedingungen ans Leben und auch keine Forderungen an ihre Kinder gestellt. Davor kann ich mich nicht tief genug verneigen. Sie war ein stilles, unpathetisches Vorbild.

Mama war gläubig. Sie hat sich intensiv spirituell auf ihre letzte Reise vorbereitet. Sie hatte Angst vor dem, was danach kommt. Und sie hatte ihren Glauben. So ging es hin und her in ihrem Kopf, in ihrem Herz, in ihrem Tagebuch.

Das Zugvögel-Gedicht hat Mama ganz spirituell verstanden. Und für sie gab es wichtigere Texte, noch expliziter christliche, in den letzten beiden Jahren. Für mich ist der Text von Ernesto Cardenal, ohne seine spirituelle Weisheit zu schmälern, vermutlich weil ich nicht in diesem Sinne gläubig bin, auch eine Metapher dafür, dass wir zeitlebens, mal mehr mal weniger, die einzigartige Einheit wiederzufinden versuchen, die wir einst mit der Mutter hatten.

Immer mehr erwachsen werden heißt, damit umgehen zu lernen, dass unser Lebensweg von der Gebärmutter zur Mutter Erde führt – und wir uns auf diesem Weg mehr und mehr selbst versorgen müssen. Oder dürfen. Das ist etwas, was ich bei Mama sehen kann oder vielleicht hineinlese: die Wertschätzung der Autonomie, das Leben, soweit möglich, selbst zu gestalten, dies ist, zumindest manchmal, mehr als nur „das Gute am Schlechten“ (dass wir nicht mehr so vereint sind wie am Anfang, sondern, hinausgeworfen aus der primären Bindung, den aufrechten Gang lernen).

Das Leben lieben? Sie hat jedenfalls immer das Beste daraus gemacht und sich dankbar für jede Kleinigkeit gezeigt. Bis zum Schluss mit einem stillen Lächeln. Vielleicht war es das, warum andere Menschen zu mir wiederholt gesagt haben: „Du hast eine so liebe Mama!“

Ja, danke, Mama!

Lektüre-Tipp, aus dem Bücherschatz meiner Ma: Jeden Morgen will Abend werden. Betrachtungen über die Vergänglichkeit (eine Gedicht- und Textsammlung), insel taschenbuch, Frankfurt a.M. und Leipzig, 2000

Außerdem: Wer die Lebensgeschichte von Ernesto Cardenal nicht kennt, sie lohnt sich. Ein katholischer Priester und kommunistischer Dichter, Politiker, Organisator, der die Hoffnung hatte, etwas von dem Himmelreich Gottes auf Erden zu realisieren. Ein Leben, geprägt von großartigem Mut, mit vielen Enttäuschungen und am Ende etwas Versöhnung und … Ruhe.