A wie Alltag, das wäre auch eine schöne Idee. Aber dann landet man derzeit schnell wieder bei Corona, wovon dieser Beitrag möglichst wenig handeln soll. Obwohl, es ist ja nichts mehr, wie es war – und alles liest sich mit der Corona-Brille anders. A wie anders oder auf griechisch: allos.
Kennen Sie noch Apotheken, über deren Eingang Leuchtreklame prangte mit „Homöopathie“ und „Allopathie“? Sozusagen die ungewollte Vereinigung der Gegensätze. Allopathie war der Kampfbegriff, mit dem Hahnemann, nachdem er die Homöopathie begründet hatte, die „sonstige“ Medizin seiner Zeit bedachte. Er hatte durchaus Grund, so kritisch mit den überwiegenden Praktiken und Theorien der zeitgenössischen Heilkunde ins Gericht zu gehen. Allerdings haben sich die Zeiten seither geändert – in der Homöopathie und auch in der „sonstigen“ Medizin. „Allopathie“ hat als Schimpfwort ausgedient.
Eigentlich müsste die sog. Skeptikerbewegung Samuel Hahnemann (1755-1843) posthum einen Preis verleihen, und zwar nicht einen der albernen Preise, um die Homöopathie lächerlich zu machen, sondern eine echte Auszeichnung seiner Verdienste als Skeptiker und Aufklärer. Hahnemann hatte sich entsetzt vom Großteil der Medizin seiner Zeit abgewandt. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Das Zeitalter der Aufklärung war auf dem Höhepunkt, aber die Medizin dümpelte noch überwiegend in mittelalterlichen Gewässern. Da existierten die Ausläufer der Humoralmedizin, die Krankheiten nach antiker Tradition aus einem Missverhältnis der Körpersäfte erklärte – woraus teilweise martialische Praktiken von Aderlass, Abführ- und Brechkuren abgeleitet wurden (man muss deshalb die Humoralmedizin heute aber nicht komplett verwerfen!). Und die chemische Pharmakologie, die mit Paracelsus begonnen hatte, war noch nicht aus diesen, seinen Kinderschuhen herausgewachsen, es wurde mit Giften hantiert, dass es nicht nur den Patienten sterbensübel wurde.
Hahnemann erinnerte an das erste Gebot der Medizin: nicht schaden (primum non nocere)! Die Homöopathie ist durch und durch diesem Gebot verpflichtet, und daraus erklären sich Hahnemanns Skrupel, Substanzen zu verabreichen, die vielleicht noch nicht genug verdünnt waren. So entstand seine Liebe zur Feinstofflichkeit. Er war kein Esoteriker! Im Vergleich mit der Medizin seiner Zeit nannte er die Homöopathie selbstbewusst eine „rationale“ Medizin. Problematisch wurde es, als er nach und nach nur noch die Homöopathie als „rational“ gelten ließ und alle andere Medizin als „Allopathie“ verteufelte, was teilweise bis heute – oder vielleicht sollte man, nach den antihomöopathischen Kampagnen der letzten Jahre, „bis gestern“ sagen – eine gewisse Überheblichkeit unter „klassischen“ Homöopathen begründet hat.
Die Medizin jener Zeit kannte keinerlei der heute selbstverständlichen Diagnostik, keine Laborwerte, kein Ultraschall, kein CT usw. Und die „Diagnostik“ der antiken Säftelehre, die die Nachfahren nie richtig gelernt hatten, war Hahnemann suspekt. Die Homöopathie umging die Problematik, dass ohne anständige Diagnose häufig auch keine vernünftige Therapie möglich ist, indem sie der individuellen Symptomatik bei der Mittelwahl eine überragende Bedeutung gab – die Krankheit ist nichts, die Symptome sind alles. Selbstverständlich kann diese Praxis allein unmöglich eine moderne Medizin begründen.
Am Anfang der Homöopathie stand eine Entdeckung: Hahnemann stellte fest, dass die Einnahme von Chinarinde sehr ähnliche Symptome auslöst wie jene, gegen die diese Medizin in seiner Zeit beim Wechselfieber eingesetzt wurde. Diese Erfahrung bestätigte sich in Versuchen mit anderen Arzneien, so löste etwa Veratrum album eine Art Darmerkrankung aus – und die Arznei half gegen Darmerkrankung mit Durchfall und Blährungen sowie Nahrungsunverträglichkeit. So entstand das Simileprinzip, die Ähnlichkeitsregel, und mit ihr die Homöopathie (griech. „ähnliches Leiden“).
Wenn man verschiedene Arzneien beim Gesunden ausprobiert, erhält man demnach Symptome, gegen die diese Arzneien bei Kranken helfen. Das nannte Hahnemann die Arzneimittelprüfung (AMP), und was dabei entstand war ein Buch mit Mitteln und Symptombeschreibungen, eine Arzneimittellehre. Woher wissen wir aber, ob jede Arznei, welche die Symptome xyz bei Gesunden auslöst, tatsächlich (!) bei ähnlichen Symptomen eines Kranken hilft? Wir wissen es zunächst gar nicht. Erst die vielfach wiederholte Anwendung in der Praxis bei Kranken belegt für die konkreten Arzneien, ob und bei was sie wirken – oder eben nicht. So entstand über Jahrzehnte bzw. mittlerweile zwei Jahrhunderte aus einer „reinen“ Arzneimittellehre (die auf Arzneimittelprüfungen basierte) eine „praktische“ Materia Medica und durch die Praxis aufgewertete Repertorien, die festhielten, wie oft welche Arznei bei welchem Symptom erfolgreich war.
Für die angewandte Arzneimittellehre spielt es letztlich keine entscheidende Rolle, ob das Mittel zu Symptomen passt, welche in der AMP auftauchten, sondern ob es bei diesen Symptomen schon häufig und beeindruckend bei Kranken geholfen hat – nur dies führt zu einer hochwertigen Markierung in der Arzneimittellehre. Diesbezüglich wurden in rund 200 Jahren Homöopathie viele Mittel langfristig erprobt und dokumentiert. Es mag durchaus immer mal echte „homöopathische“ Phänomene geben, wo Ähnliches durch Ähnliches geheilt wird (übrigens innerhalb und außerhalb der Homöopathie). Etwas überspitzt könnte man dennoch sagen, das Simileprinzip – die Übereinstimmung mit der AMP – ist möglicherweise nicht so wichtig, und daher trifft auch der Name „Homöopathie“ nur bedingt zu, was wiederum auch Folgen für den Begriff „Allopathie“ hätte: So streng sind die Grenzen ohnehin nicht zu ziehen.
Apropos Allopathie: Die „Schulmedizin“ hat sich in diesen 200 Jahren in Diagnose und Therapie fundamental geändert. Man kann ihr heute im Großen und Ganzen schlecht mangelnde Rationalität an der wissenschaftlichen Grundlage vorwerfen. Den riesigen Einfluss ökonomischer Interessen, die dann häufig zu einer irrationalen Anwendung dieser Medizin führen, klammern wir hier aus. Eine kategorische Ablehnung der Hochschulmedizin als „Allopathie“ ist heute unsinnig und unethisch. Noch weit mehr veraltet als das Schimpfwort „Allopathie“ erscheint mir der Streit zwischen Homöopathie und Naturheilkunde, wie ihn beide Seiten immer wieder ausgefochten haben: Die „reine“ Naturheilkunde vor 150 oder teils noch vor 100 Jahren wollte keinerlei Arzneimittel zulassen, was durchaus sympathisch ist, aber zumindest heute auch ein bisschen weltfern, sondern nur Naturheilmittel wie Licht, Luft, Ernährung, Bewegung, Lehm usw. Demnach galt auch Homöopathie als unerwünscht. Die „klassische“ Homöopathie tat dagegen bisweilen so, als sei die Naturheilkunde auch nichts anderes als Allopathie und lehnte aus diesem Blickwinkel z.B. die Kräutermedizin (Phytotherapie) ab. Homöopathie ist heute ein naturheilkundliches Verfahren unter anderen, wenngleich von Methode und Verständnis her ein sehr spezielles. Im Zweifels- oder Notfall bleibt ihr wie anderen Naturheilverfahren der Rückgriff auf die konventionelle Medizin, insofern macht der lange unter Naturheilkundlern wenig beliebte Begriff „Komplementärmedizin“ Sinn – auch wenn man bei vielen Krankheiten und in vielen Fällen allein mit der Naturheilkunde sehr viel erreichen kann.