E wie Erkenntnistheorie

Der folgende Beitrag ist der vorläufig „theoretischste“ in diesem Blog. Falls Sie mehr an praktischen Fragen der ganzheitlichen Therapie interessiert sind, empfehle ich Ihnen, im Alphabet der Reflexionen oder in der Rubrik Gesundheitsratgeber zu stöbern. Außerdem möchte ich frühstmöglich darauf hinweisen, dass ich zu den folgenden Überlegungen motiviert und inspiriert wurde durch das am Ende empfohlene Buch von Harald Walach: Spiritualität. (Man könnte den Beitrag auch als eine Art Buchrezension verstehen, doch das Buch bietet wesentlich mehr als das, was ich hier verwende.)

Aha, werden Sie vielleicht denken, was hat denn Spiritualität mit Erkenntnis zu tun? Gegenfrage: Hätten Sie den Beitrag angefangen zu lesen, wenn „S wie Spiritualität“ darüber gestanden hätte?  

Dann kommen wir also gleich zur Sache: Gibt es ernstzunehmende Erkenntnis außerhalb der Naturwissenschaft? Anscheinend nicht, denn selbst die Psychologie, die es mit Seele, Geist und Bewusstsein zu tun hat, versucht sich einen möglichst naturwissenschaftlichen Anstrich zu geben. Und die „Modernisierung“ der Naturheilkunde hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem eines bedeutet: das naturwissenschaftliche Aufrüsten, manchmal eher pseudo-naturwissenschaftliche „Pimpen“ der alten Rezepte und Weisheiten. Mal finde ich es nervig, mal peinlich, eher selten rundum überzeugend, wenn hier mit ähnlich komplexen Modellen, Grafiken, Vokabeln usw. für die bewährte Erfahrungsheilkunde geworben wird. Allerdings, räume ich ein, scheint das heute zwingend, denn das naturwissenschaftliche Weltbild haben wir alle, auch unsere Klienten, sozusagen mit der Muttermilch, zumindest aber mit der Schulbildung aufgesaugt.

Gehen wir dagegen nun versuchsweise einmal von nicht-sinnlichen, naturwissenschaftlich nicht fassbaren Erfahrungen aus, womit sich Naturwissenschaftler und Menschen mit naturwissenschaftlichem Weltbild zumindest nicht öffentlich befassen möchten, schließlich steht der Ruf in Gefahr: spirituelle Erfahrungen. Für diese ist kennzeichnend, dass sie durchaus so etwas wie Erkenntnis beanspruchen: Wer eine solche Erfahrung macht, für den ist es eine Erfahrung von Wirklichkeit – kein Hirngespinst. Allerdings scheint diese Wirklichkeit schwer sprachlich fassbar, nicht nur reden die verschiedenen Religionen in unterschiedlichen Sprachen darüber, auch innerhalb spiritueller Traditionen ist es geradezu ein Charakteristikum, dass die „Erleuchtung“ in Paradoxien und Rätseln versucht wird auf den Begriff zu bringen.

Spätestens seit der Aufklärung hat die jeweils zeitgemäße Philosophie spirituelle Erfahrung unter dem Gesichtspunkt des Wissens eher als Mangelzustand verstanden: Glauben ist eben nicht Wissen – wohingegen der Glaubende oder spirituell aktive Mensch das ja ganz anders sieht. Immanuel Kant (1724-1804) hatte „Ideen“ wie die von Gott oder von der Unsterblichkeit der Seele außerhalb des Kompetenzbereichs der Philosophie gesehen, denn sie konnten nach seinem Verständnis von Welt und Erkenntnis rational weder belegt noch widerlegt werden (auch wenn letztere Formulierung eher hundert Jahre später en vogue wurde). Womit erledigt war, was die Philosophen doch über Jahrhunderte intensiv beschäftigt hatte: Gottes Existenz zu beweisen oder zu widerlegen. Schnee von gestern.  

Salopp gesagt, das war ein genialer Streich: Jedem das zu geben, was ihm gehört und gebührt – der Wissenschaft das gesicherte Wissen, der Religion den ziemlich vagen Glauben, zumindest die „Erlaubnis“ dazu, nach dem Motto „nichts Genaues weiß man nicht“ von diesen „Dingen an sich“, von der damit wahrlich jenseitig gewordenen Welt. Großartig, wie auf diese Weise der Streit der Fakultäten besänftigt werden konnte, und wenn man nur ein bisschen historisch zurückdenkt an Ketzerverbrennung und ähnlich unschöne Dinge, erinnert man sich auch, dass es bei diesem Streit um Erkenntnisse nicht nur um akademisches Geplänkel ging. So wurde nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern auch die Glaubensfreiheit – als Freiheit von ewig gültigen Dogmen über das Übersinnliche – begründet. Der Boden für friedliche Koexistenz schien bereitet.

Allerdings hat die weitere Geschichte gezeigt, dass die Naturwissenschaft sozusagen nicht genug bekommen kann, die ganze Wirklichkeit für sich haben will, so dass der Glauben als letztlich belächeltes Privatvergnügen übrigblieb. Als hätte die Naturwissenschaft oder die naturwissenschaftlich geprägte Philosophie alle Antworten, auch auf die letzten Fragen zu bieten. Und wenn doch nicht, dann behauptet sie, dass es diese Fragen „logisch korrekt gedacht“ gar nicht gibt und wer sie stellt, schon einen erkenntnistheoretischen Grundfehler begangen hat.

Bewusstsein und Materie erschienen eben den Philosophen, wie übrigens auch den gewöhnlichen Menschen, schon immer als ziemlich verschieden. Und so unterschiedlich fielen daher die Antworten auf die Frage aus: Wie verhalten sich Materie und Geist – oder auch Leib und Seele – zueinander? Da gab es Idealisten (alles leitet sich vom Geist bzw. Bewusstsein ab) und Materialisten (alles lässt sich aus der Materie herleiten) und dann wieder Dualisten (Geist und Materie sind so verschieden, dass ihr Zusammenhang letztlich wundersam bleibt). Kant hat mit seinem „transzendentalen Idealismus“ hier eine Art Lösung präsentiert, die auf breiter Front Anklang fand, obwohl schon die unmittelbaren Nachfolger wieder „höher“ (idealistischer) oder „tiefer“ (materialistisch) hinaus wollten.

Bei philosophischen Modellen ergeht es wohl nicht nur mir so, dass ich sie an einem Tag genial finde und mich an einem anderen Tag frage, ob es sich vielleicht nur um einen „Trick“ handelt. Eine aktuelle philosophische Lösung mit spannenden Entwicklungsperspektiven habe ich kürzlich bei Harald Walach (siehe Lektüretipp) entdeckt. Er nennt diese Position „Komplementarismus“. Das ist auch insofern bemerkenswert, als Walach seit vielen Jahren hierzulande einer der prominentesten Vertreter der forschenden Komplementärmedizin ist, also eine Menge Erfahrung mit Komplementärmodellen hat: Wenn zwei oder mehr Dinge sich komplementär zueinander verhalten, so bilden sie (nur) gemeinsam ein Ganzes, wie beispielsweise naturwissenschaftliche Hochschulmedizin und erfahrungsbasierte Naturheilkunde. Schön wär’s, wenn das auch mehr Vertreter der Hochschulmedizin erkennen könnten …

Wenn man den Begriff der Komplementarität auf das Verhältnis von Materie und Geist, von äußerer (sinnlicher) und innerer (übersinnlicher) Erfahrung, von leiblichen und seelischen Prozesse anwendet, dann kann aus dem Dualismus „auf einen Schlag“ eine Ergänzung werden: Die äußere, durch Sinne vermittelte Erfahrung und die innere Erfahrung beziehen sich beide auf eine Wirklichkeit, aber erfassen und beschreiben sie in ganz verschiedenen Aspekten. Erst gemeinsam ergeben beide Perspektiven ein vollständiges Verständnis von Wirklichkeit. Die Aufklärung fortführen und sie von ihrem längst gefährlich einseitigen Weg des naturwissenschaftlichen Absolutismus zu befreien, das hieße für Walach, eine echte Wissenschaft des Bewusstseins aufzubauen, von der Möglichkeit her begründet hat er sie hiermit bereits.

Ob man ihm folgen mag oder im Zweifel z.B. doch lieber auf Kant zurückgreift (Wissen ist sicher, Glauben ist vage), dabei spielt wahrscheinlich die spirituelle Erfahrung des jeweils Philosophierenden eine Rolle – wer solche Erfahrung(en) gemacht hat, der ist aufgrund der Art dieser Erfahrungen keinesfalls gewillt, deren Erkenntnis in den Bereich eines minder qualifizierten „Glaubens“ abdrängen zu lassen. Und wer sie nicht gemacht hat? Der könnte die komplementaristische Position zumindest „sympathisch“ finden, da ihm der naturwissenschaftliche Absolutismus über die Jahre und Jahrzehnte auch sehr unheimlich geworden ist, und zustimmen: Ja, versuchen wir’s doch mit einer solchen Sicht und versuchen wir doch, eine solche Wissenschaft vom Bewusstsein aufzubauen.

Man soll ja nicht immer gleich nach dem praktischen Nutzen fragen, aber schauen wir mal auf die Grenze von Theorie und Praxis. Könnte der komplementaristische Ansatz z.B. für die Psychotherapie relevant sein? Wenn es um die Behandlung der Seele geht, ist es nach meiner Erfahrung sehr hilfreich und produktiv, die Seele nicht nur so zu verstehen, wie sie die wissenschaftliche Psychologie konstruiert. Auch ohne eine mehr oder weniger hochphilosophische Begründung ist längst bekannt und wissenschaftlich dokumentiert, dass regelmäßige spirituelle Praxis (Meditation, Gebet, Kontemplation, Achtsamkeitsübungen) einen wertvollen Beitrag zur Psychotherapie leisten kann. Die letztlich aus spirituellen Traditionen entlehnten Achtsamkeitstrainings des MBSR helfen effektiv nicht nur gegen „Stress“ im weitesten Sinn, sondern auch im Umgang mit körperlichen und psychosomatischen Schmerzen sowie psychischen Leiden (auch wenn dies bekanntlich nicht für jeden Patienten gilt bzw. geeignet ist). Hierzu liefert Walach eine Fülle an wissenschaftlichen Zusammenhängen, Kriterien, Daten, Modellen. Darüber hinaus bin ich absolut überzeugt, dass es einen Unterschied sozusagen ums Ganze machen kann, ob ich dem Klienten oder Patienten so begegne, als ob er/sie eine unsterbliche göttliche Seele, eine Anbindung an etwas Großes, alle Menschen Verbindendes hat. Ob Sie daran glauben oder nicht, hier halte ich ebenfalls ein sympathisierendes „so tun als ob“ für zulässig.

Vielleicht könnte der Komplementarismus auch etwas gewissermaßen „fundamental“ Wichtiges zur Komplementärmedizin beitragen. Ganzheitliche Therapie ist zwar im Wesentlichen Erfahrungsheilkunde, die Frage nach einer Begründung erscheint da manchmal wie ein Theoretikerproblem. Nicht selten wechseln aber auch Praktiker vorschnell und selbstbewusst ins Fach der Theorie oder gar Metaphysik mit dem beliebten Aphorismus: „Wer heilt, hat Recht.“ Aus erfolgreicher Praxis allein ergibt sich jedoch erkenntnistheoretisch kein direkter Wahrheitsanspruch – und wie wacklig dieses vermeintlich feste Fundament des Rechthabens ist, das hat die Homöopathie-Debatte gezeigt: Vom Standpunkt der Praxis hat die Homöopathie beeindruckende Erfolge vorzuweisen (die übrigens auch wissenschaftlich dokumentiert sind), was sie nicht davor bewahrt hat, in jüngster Zeit erheblich an Ansehen eingebüßt zu haben, nachdem es Kritiker systematisch darauf angelegt hatten, sie bloßzustellen. Auch das ist – immer noch – Aufklärung: alles erstmal kritisch zu hinterfragen. Wenn man selbst dazu nicht bereit ist, ist man in Gefahr, dass es andere tun.

Quelle und Lektüretipp: Harald Walach, Spiritualität. Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen (Drachen Verlag, Klein Jasedow 2011). Wer sich mehr für Komplementärmedizin als für philosophischen Komplementarismus interessiert, dem sei H. Walachs Buch „Heilung kommt von innen“ (Knaur Verlag, München 2018) empfohlen.