Mit der Augenhöhe verhält es sich ähnlich wie mit der Achtsamkeit: Wenn eine wunderbare Sache mit einem moralischen Anspruch verquickt wird, verliert sie mehr, als sie dabei gewinnen kann. Die moralische Aufladung, wie etwas sein sollte, wirkt vor allem in der Therapie eher wie Gift statt Hilfe, denn sie hält uns vom tabufreien Spüren dessen ab, was ist.
Und ja, es gibt sie, die Augenhöhe. Das besondere Glück solcher Augenblicke erlebe ich gerade in Konstellationen, in denen ich sie nicht erwartet hätte – etwa wenn sich ein Patient in der Einzeltherapie die Augenhöhe „herausnimmt“, das ist wunderbar. Ich schreibe „herausnimmt“, weil diese Menschen schon eine gewisse Ich-Stärke haben und, vereinfacht gesagt, eher neurotisch als psychiatrisch gestört sind, während viele Patient*innen sich lieber klein machen oder gar unterwerfen – manchmal übrigens gerade die, die zwischendurch auf Augenhöhe bestehen, d.h. es kann immer wieder paradoxe Momente geben, in denen sie aggressiv betonen, dass sie schon groß oder autonom o.ä. sind.
Augenhöhe ist jedoch keine Voraussetzung für eine funktionierende Beziehung. Es geht auch ohne, und manchmal gut. Die beiden Therapeuten, zu denen ich die längste Zeit als Patient gegangen bin, sind beides Tiefenpsychologen, jedoch vom Typ sehr unterschiedlich: mit Frau B. hatte ich gefühlt nie Augenhöhe, mit Herrn Z. immer – und doch habe ich mich bei beiden in guten Händen befunden.
Als Therapeut versuche ich in Beziehungen zu Patienten immer wieder offen zu sein und bestehe gelegentlich darauf, im wahren Leben kein besserer Lebenskünstler als sie zu sein (nur habe ich bessere Karten als viele von ihnen), insofern gibt es so etwas wie Augenhöhe. Wenn wir uns „draußen“, also außerhalb des therapeutischen Kontextes treffen, sowieso! Manchmal bin ich ganz demütig und schaue beinahe auf zu den Klienten, die bei so schlechten Lebensbedingungen so viel auf die Reihe bringen. Allerdings ist die Rollenverteilung in der Therapie selbst klar vorgegeben – und da bin ich manchmal „überlegen“, weil es hier nicht um meine Sorgen geht, sondern um die des Klienten.
Eine wesentliche Erkenntnis der Tiefenpsychologie besteht darin, den Mechanismus der „Übertragung“ (und Gegenübertragung) zu verstehen und zu nutzen: Zwischen Patient und Therapeut reinszeniert sich ein altes Rollenmuster aus der Ursprungsfamilie. In der Geschichte der Tiefenpsychologie, vor allem, als sie noch Psychoanalyse hieß, hat es (vermutlich oft unbewusst, so kurios das klingen mag) viel Missbrauch dieser Übertragungsbeziehung gegeben: Patienten wurden klein gehalten. Die „Humanistische Revolution“ in der Psychotherapie seit Mitte des letzten Jahrhunderts hatte daher völlig Recht, Schluss damit zu fordern: Der Patient muss sich aufrichten, der Therapeut ihm/ihr auf Augenhöhe begegnen. Soweit, so gut! Nur, wie es jetzt läuft, ist es oft unauthentisch und unnötig anstrengend. Augenhöhe ist ein Ideal in der Therapie wie im Leben, aber nicht das einzige, Liebe und Respekt sind wesentlicher, d.h. wir müssen uns auch bewusst sein, was der Begriff nicht bedeutet.
Augenhöhe wird häufig überbewertet, weil man sie mit Respekt verwechselt. Respekt muss immer sein, Augenhöhe ist von vielen Faktoren abhängig und oft einfach ein Geschenk: Oh, es klappt. Mit manchen Menschen klappt es eben nicht, und dann lässt der Anspruch an Augenhöhe die Beziehung nur anstrengend werden. Wenn ich dies oder das tue oder sage, könnte es so und so verstanden werden, dass ich mich überhebe (oder unterwerfe). Wenn die Augenhöhe da sein „soll“ (weil man sich und seine Meinung ja auf keinen Fall wichtiger nehmen darf als die des andern), aber sie sich nicht einstellt, was dann?
In beruflichen, speziell therapeutischen Beziehungen löse ich mich in solchen Fällen vom Anspruch an Augenhöhe, was im Grunde auch das Nächstliegende wäre (wenn wir der Moral nicht solche Bedeutung geben würden): Eine Patientin, egal wie alt, die sich mehr oder weniger konstant in meiner Anwesenheit wie ein Mädchen verhält und ständig Papi-Reaktionen von mir (heraus-)fordert, kann ich immer wieder daran erinnern, dass Therapie machen heißt: erwachsen werden. Doch dies ist vielleicht noch nicht in dem Maße möglich, wie ich es ihr wünsche, vielleicht benötigt sie noch Papi-Zuwendung, Annahme und Anerkennung, um zu reifen, aber ich begegne ihr solange nicht auf Augenhöhe, solange sie selbst nicht Augenhöhe „liefert“.
Neben der Übertragung von Elternrollen gibt es noch einen anderen Mechanismus, der Augenhöhe verhindert: die Opfer-Retter-Täter-Dynamik. Manchmal scheint es, als könnte ich tun, was ich will, der kleinste Anlass genügt und der Patient rutscht in die Opfer-Rolle, ich kann mir dann aussuchen, ob ich Retter oder Täter werde. Selbstverständlich werde ich dies konfrontieren und klären, dass ich für beide Rollen nicht zur Verfügung stehe, aber auch da kann ich Augenhöhe nicht erzwingen. Respekt für das Leid und die Geschichte der Betroffenen habe und zeige ich jedoch. Und ich versuche immer, aus diesem Bewusstsein heraus zu dem zu kommen, was es noch braucht, vereinfacht gesagt: Liebe.
Die bisweilen schädliche Unangemessenheit in Sachen Augenhöhe im Rahmen der traditionellen Psychoanalyse hatte m.E. nicht primär mit fehlender Augenhöhe an sich zu tun, sondern mit mangelnder Nahbarkeit: Als Therapeut können wir schon, wenn es dem Patienten hilft, für eine bestimmte Zeit eine gewisse Rollen-Hierarchie (typischerweise Eltern-Kind) zulassen, wir dürfen aber nicht unnahbar sein wie der berühmt-berüchtigte „kalte Spiegel“. Ich lasse die Patienten nie darüber im Unklaren, wie es mir mit ihnen und was mir besonders nahe geht.
Im Privaten versuche ich mehr und mehr, Beziehungen, in denen keine Augenhöhe stattfindet, sie aber als Anspruch über uns schwebt, aufzulösen oder aufzugeben. Die Über- oder Unterlegenheit kann sich in herausfordernden Momenten nach Täter- oder Opferschaft anfühlen. Wenn dies zu oft der Fall ist, lasse ich los. Ganz. Manchmal setzt Augenhöhe eben eine Distanz voraus, aus der wir uns wieder in die Augen schauen können.
In der partnerschaftlichen Liebe zwischen Erwachsenen braucht es dagegen schon Augenhöhe. Ein besonders grausamer Mangel an Augenhöhe in Partnerschaften besteht dann, wenn der eine den anderen deutlich mehr liebt als umgekehrt – und der „Unterlegene“ sich noch mehr unterwirft, um vielleicht doch mehr Liebe abzubekommen.
Partnerschaft ohne Augenhöhe mag manchmal verlockend sein: Wenn einer der Größere ist und für den Kleineren sorgt; aber auch bestimmt! Solche Partnerschaft ist nicht wirklich erwachsen und wäre daher – für mich – zu anstrengend. Ich brauche ein gleichwertiges Gegenüber und das kann ich selbst und allein nicht „herstellen“, selbst wenn Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit meine Leitwerte sind.
Der moralische Anspruch auf Augenhöhe, allerdings, vor allem dort, wo sie offenbar gar nicht möglich ist, weil die beiden, um die es geht, dazu (noch) nicht in der Lage sind, ist nervig und unauthentisch. Er trägt nichts Konstruktives bei, sondern kann selbst eine Opfer-Retter-Täter-Dynamik erzeugen oder verstärken, kurzum, alles verschlimmern.
