Moralischer Absolutismus ist kindisch. Jonathan Franzen schreibt dies in seinem Roman „Unschuld“ (Purity), der – wie nicht anders zu erwarten – sehr viel von Schuld handelt, vom Ringkampf zwischen moralischer Bewertung und psychologischem Verständnis. Und wie in allen Werken von Franzen geht es viel um Partnerschaften: Was Menschen, die sich lieben oder geliebt haben, sich gegenseitig antun.
„Kindisch“ ist keine schlechte Kategorie, wenn es um Moral, Ethik (die Theorie davon) und Moralismus (die exzessive Verwendung dieses Bezugssystems) geht, denn als Kinder lernen wir „mit Hilfe der Erwachsenen“ die Welt zu unterteilen in Gut und Böse. Viele von uns bekommen schon bald auch Ahnungen davon, dass irgendwas mit dieser Zweiteilung nicht stimmt, dass sie manchmal ganz wichtig ist, und dann auch wieder völlig ignoriert wird. Wir lernen die selektive Wahrnehmung und Nutzung moralischer Kriterien, und diesbezüglich weist unsere individuelle Biografie deutliche Parallelen mit der Menschheitsgeschichte auf, in der auch vieles moralisch Widersprüchliche möglich wurde, von der Einzelfallregel bis zum gerechten Krieg.
Begriffe wie Egoist oder Egoismus sind im Zusammenleben selten hilfreich in der Sache, allerdings verrät die „Diagnose“, die damit einem Menschen gestellt wird, oft viel über das Verhältnis des Sprechers zu seinen Mitmenschen und über sein Verhältnis zu sich selbst.
Ein prominentes Beispiel aus der therapeutischen Arbeit: Angehörige von psychotherapeutischen Patienten äußern nicht selten den Vorwurf, Patientin oder Patient (also ihr Partner, ihr Kind …) seien durch die Therapie egoistisch(er) geworden. Nehmen wir an, es handelt sich um Lebenspartner. Häufig steht folgende Entwicklung dahinter: Zwei Menschen leben zusammen, von denen einer sich in Therapie begibt, kurioserweise nicht selten motiviert oder nahezu gezwungen vom Partner. Der Patient lernt im Laufe der Therapie, seine Bedürfnisse besser zu erkennen, zu verstehen und zu vertreten. Spricht er anfangs bei Nicht-Befriedigung oder Verletzung der eigenen Bedürfnisse durch andere davon, dass „man“ (andere) dies oder das doch nicht tue oder man (er selbst) dies oder das wohl erwarten dürfe, kann er sich später auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse beziehen und daran orientierente Wünsche formulieren.
Für Mitmenschen bedeutet dieses ungewohnte Verhalten eine Umstellung. Ganz besonders dann, wenn sie selbst noch nicht gelernt haben, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse wirklich wahrzunehmen (im doppelten Wortsinn) und sich stattdessen, wie früher der Patient, hinter Normen und Werten „verschanzen“ – weil sie ebenfalls früh gelernt haben, dass „man“ die Moral auf seiner Seite haben muss, um für sich einzutreten. Angehörige empfinden die größere Offenheit des Partners zunächst als Angriff und schieben die „Schuld“ dem Therapeuten oder Mitpatienten zu. Die Berufung auf Regeln, Normen, Werte und Moral (der Vorwurf des „Egoismus“) stellt in diesem Falle eine psychologisch nachvollziehbare Abwehrstrategie dar. Ganz unbeteiligt ist der Patient auch nicht, aber es geht nicht um Schuld oder darum, wer sich falsch verhält, es ist das ganz normale Leben.
Meine These lautet, dass häufig die als „Egoisten“ wahrgenommenen (Ex-)Patientinnen nicht zu viel von sich und ihren Bedürfnissen reden, sondern immer noch zu wenig! Da die Schritte auf dem „Weg zu sich selbst“ mit erheblichen Ängsten vor Anfeindungen verbunden sind, denn wir haben von früh auf gelernt, dass „Selbstsucht“ etwas ganz Schreckliches ist und uns sehr schnell zugeschrieben wird, stützen sich die Betreffenden beim Vorangehen an anderen ab: „Mein Therapeut sagt …“ „Meine Mitpatientinnen haben mich ermutigt …“ Während also der Partner sich weiter hinter Normen und Werten verschanzt, lässt sich der Patient von Gewährsleuten wie dem Therapeuten helfen, der ihn sicher ermutigt, besser für sich selbst zu sorgen – aber bestimmt nicht ermuntert, egoistisch zu sein (und der manchmal dies oder das vielleicht auch gar nicht so genau gesagt hat, wie es der Patient im Ohr hat). Allerdings ist der Therapeut in der Tat so etwas wie der besondere Freund und Unterstützer. Daraus ergeben sich eine Menge an Verwechslungen – beim Klienten und beim Angehörigen. (Wem das alles zu abstrakt ist: Ich bringe als PS ein ganz konkretes Beispiel, sonst wird der eigentliche Text noch länger als lang.)
Erfolgreiche Therapie macht niemanden zum Egoisten, sondern verschafft der Empathie noch mehr Spielraum: Wer sich selbst wirklich fühlt und seine Bedürfnisse spürt und vertritt, kann dies bei anderen viel besser nachvollziehen und unterstützen. Das ist kurz gefasst der humanistische Grundoptimismus der Psychotherapie: dass sich auch die Welt verbessert, wenn es dem Patienten wirklich besser geht. Allerdings verschärfen sich im Verlauf der Therapie und bei der Umsetzung von therapeutischen Zielen oft zwischenmenschliche Konflikte, so dass der Eindruck entstehen kann: „Ohje, jetzt ist alles noch schlimmer als davor.“ Vielleicht könnte eine Konsequenz sein, dass beide Partner Therapie machen. Oder dass sie sich in den konflikthaften Phasen Paarberatung suchen, um sich durch einen neutralen Vermittler die jeweiligen Empfindungen und Wünsche möglichst neutral „übersetzen“ zu lassen.
Apropos „neutral“: Die eigenen Bedürfnisse erkennen und vertreten, dass ist ein fundamentaler und weltverändernder Schritt – bzw. viele kleine und mittleren Schritte ergeben diesen Umbruch. Der Begriff „Egoismus“ ist mit so viel moralischen Wertungen verbunden, dass ich es für sinnlos halte, ihn in diesem Kontext zu verwenden. Aber wahrscheinlich trifft er in anderen Kontexten genauso wenig zu, sondern verrät mehr über die Hilflosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht bei jenen, die ihn verwenden. Achten Sie z.B. nur einmal, wenn in Corona-Diskussionen das Wort Egoismus fällt …
Man kann „Egoismus“ mit seinen vielen negativen Assoziationen nicht in etwas Positives verwandeln: „gesunder Egoismus“ etwa, das klingt für mich wie „gerechter Krieg“. Eigentlich noch schlimmer, denn Egoismus bedeutet: Ich verfolge rücksichtslos meinen Vorteil und nehme dabei Nachteile für andere in Kauf. Inwiefern und wann könnte das „gesund“ sein? Der Begriff „Egoist“ beurteilt den Charakter eines Menschen, also den Menschen insgesamt – und zwar absurderweise aus einzelnen Handlungen heraus, es handelt sich um so etwas wie einen induktiven (Fehl-)Schluss. Die meisten Menschen handeln in einigen Fragen, wo ihre Interessen berührt sind, zielstrebig und vielleicht auch kompromisslos, z.B. dort wo die Konkurrenz unvermeidlich ist oder wo es um ihr Leib und Leben geht, in anderen aber nicht, d.h. man müsste Menschen und ihre Handlungen insgesamt und differenziert betrachten. Und spätestens dann stellt sich oft die Frage, ob es so wichtig ist, sie moralisch zu bewerten.
Wer alles darauf setzt, in erster Linie angepasst zu sein, wer glaubt, dass er seine Gefühle und Bedürfnisse nur artikulieren „darf“, wenn er sich dabei auf allgemein gültige Normen berufen kann, der sieht vermutlich „Egoisten“, wo keine sind. Man würde psychologisch von Projektion sprechen. Die überproportionale Aufregung und Energie, mit der der Egoismus-Vorwurf häufig erhoben wird, etwa wenn noch von Scham (man solle sich schämen oder so etwas) die Rede ist, spricht meist Bände über die unerledigten Lebensthemen des Anklägers: Die enorme Entrüstung darüber, dass jemand etwas tut, was „man“ doch nicht tut (oder etwas nicht tut, was „man“ doch tut), ist im Kern kein Entsetzen über Selbstsucht, sondern über Selbstbestimmung – das, was dem Ankläger im tiefsten Inneren unvorstellbar erscheint, weil er auf eine Erlaubnis wartet, die niemand ihm je geben wird.
Meist geht es, wenn Begrifflichkeiten wie Egoismus inflationär oder mit unangemessener Heftigkeit verwendet werden, nicht um Moral, sondern um eine kindliche, genauer gesagt: kindische Weltsicht. Wird dieser Verdrängungsmechanismus politisch instrumentalisiert und die Mehrheitsgesellschaft zurück zur Phase „Gut und Böse“ infantilisiert, rutscht die Demokratie auf die schiefe Ebene. Was wäre das für eine „schöne neue Welt“ (A. Huxley), in der niemand mehr für seine eigenen Interessen eintritt, sondern nur noch für die der Allgemeinheit, weil er von klein auf so normiert wurde? Eine Welt, in der die Utopie der Solidarität oder des Sozialismus zur Dystopie des sozialen Terrors geworden ist. Lesen Sie Jonathan Franzen, das macht aus verschiedenen Gründen wesentlich mehr Spaß als die Lektüre von Aldous Huxley – aber diesen zumindest zu kennen, kann auch die Augen öffnen.
PS. Und hier das versprochene Beispiel zu „Macht Therapie egoistisch“? Angenommen, Mann und Frau – das können Sie, um es gleich zu sagen, auch umgekehrt oder mit gleichgeschlechtlichen Paaren durchspielen – haben unterschiedliche Vorstellungen über Ordnung in ihrem gemeinsamen Haushalt. Das führt immer wieder zu Konflikten. Zwar handelt es sich dabei weder um das zentrale Paarproblem noch um das zentrale therapeutische Thema des Mannes (nein, er ist kein Messi). Die Frau ärgert es allerdings immer wieder gewaltig, dass ihr Mann regelmäßig verspricht, sich zu bessern, aber nichts dergleichen geschieht. Manchmal versucht sie ihn zu verstehen und sagt sich: „Okay, er ist ja so überarbeitet, da fällt mein Wunsch nach Ordnung eben hinten runter.“ Dann hofft sie, dass er es wenigstens honoriert, dass sie so viel für die Ordnung tut. Was aber nicht geschieht. Und dann sieht sie auch noch, wofür bei Partner trotz Überarbeitung immer wieder Energie da ist – und fühlt sich nicht gesehen oder nicht wichtig genug genommen (oha, da lauern dann doch ganz große Paar- und Therapiethemen). Der Mann ist auch nicht unbedingt glücklich über dieses Thema oder die Konstellation, aber er weiß sich nicht zu helfen. Er hat früh gelernt, dass „man“ wichtigen Menschen in seinem Leben keinen Wunsch abschlagen darf, dass „man“ nicht Nein sagt usw., daher sagt er Ja, verhält sich aber nicht entsprechend.
Nun kommt er „endlich“, wie die Frau meint, wegen Burnout-Depression in eine psychosomatische Klinik … und lernt dort nach einigen Abwehrversuchen, das ist jetzt eine sehr verkürzte Version, zu seinen Bedürfnissen wirklich zu stehen und sie zu vertreten. Die Frau, die insgeheim so manche Hoffnung bezüglich der Heimkehr des Mannes hegt, erlebt dann aber zunächst Enttäuschung: Zur Arbeit geht der Mann bald wieder, dass er sich dort ausreichend abgrenzt, kann sie nicht erkennen, aber wenn es nun um die Ordnung im Haushalt geht, äußert sich der Mann auf einmal relativ klar ablehnend: „Also, das erlebe ich ganz anders, da habe ich andere Vorstellungen, dein Ideal von Ordnung teile ich nicht und daher fehlt mir eigentlich die Bereitschaft, immer wieder aufzuräumen.“ Gut nachvollziehbar, dass die Frau das als Egoismus erlebt! Und tatsächlich kann diese „Selbstbestimmung“ und „Selbstfürsorge“ des Mannes auf dem Weg in ein besseres Leben nur ein Zwischenschritt sein.
In einer funktionierenden Partnerschaft sind den Partnern auch die Bedürfnisse des jeweils anderen wichtig. Dazu kann man sich verschiedene Optionen denken. Häufig wird mit einem Bedürfnis leider eine ganz bestimmte Art der Befriedigung verbunden. (In der gewaltfreien Kommunikation nennen wir dies Verwechslung von Bedürfnis und Strategie.) Entscheidend ist das Verständnis, dass wir nicht zwangsläufig für die Befriedigung des anderen zuständig sind, sondern dass beide gemeinsam klären, welche Bedürfnisse und konkreten Wünsche es gibt, und welche Lösungen den Bedürfnissen beider gerecht werden. Im Idealfall ist die Lösung kein Kompromiss (beide verzichten auf etwas), sondern etwas Neues (beide gewinnen etwas).