E wie Experte

Der Begriff Experte ist bekanntlich dehnbar. In manchen Medien wird bereits jede(r), der (die) zu Wort kommt, als Experte bezeichnet. Es gibt außerdem die gefühlten Experten, etwa beim Fußball, das sind ab einem gewissen Spielstand oder Alkoholpegel: fast alle Fans. Ein ähnliches Phänomen habe ich in der Corona-Krise beobachtet  –  wer mir alles auf einmal die Zusammenhänge haarklein erklären konnte, zumindest solange, bis die großen Experten wieder eine Kursänderung vornahmen … Nun soll es hier aber um Experten gehen, die Sie selbst vielleicht für Ihre Behandlung suchen.  

Patienten halten ihre eigene Erkrankung oft für etwas sehr Spezielles und meinen daher zurecht, sie benötigten einen Spezialisten. Zutreffend daran ist, dass niemand Sie so gut kennt wie Sie sich selbst. Und oft kennen sich Patienten auch mit den eigenen Diagnosen derart gut aus, dass man als Therapeut schon mal ins Schwimmen geraten kann. Die Psychotherapie hat längst erkannt, wie wichtig es ist, diese Eigenwahrnehmung ernst zu nehmen: „Sie selbst sind der Experte für Ihre Krankheit!“ Der Therapeut ist „nur“ der Experte für Psychotherapie im Allgemeinen, der z.B. die Maßnahmen kennt, die bei vergleichbaren Fällen geholfen haben. Diese Augenhöhe ist allerdings nicht für jede*n Patient*in nur mit Hochgefühlen verbunden, da er (sie) ganz anders in die Verantwortung genommen wird, als wenn der „externe“ Experte verantwortlich wäre und die Dinge richten würde.

Wie sieht es in Naturheilkunde aus? Ganzheitlich tätige Ärzte sind selten Spezialisten oder Experten für eine medizinische Teildisziplin (Kardiologie, Endokrinologie, Gastro­enterologie usw.), sondern meist praktische Ärzte: Allgemeinmediziner oder Internisten. Und bei den Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern ist es genauso. Solches „Generalistentum“ (Allgemeinmedizin) ist nicht zwingend ein Nachteil. Da es um den ganzen Patienten geht, kann der Generalist sogar im Vorteil gegenüber dem Spezialisten sein.

Die in der Schulmedizin zentralen „objektiven Befunde“ – wie Laborwerte (Rheumafaktoren, Autoimmunzellen usw.) oder Röntgenbilder – werden in der naturheilkundlichen Praxis durchaus ernstgenommen. Dennoch geht es mehr um die „Anschauung“ des Patienten insgesamt. Pointiert formuliert, könnte man sagen: Die schulmedizinische Therapie ist spezifisch für die Krankheit („der Patient ist nichts, die Diagnose ist alles“), die naturheilkundliche Behandlung dagegen spezifisch für den Patienten („nicht die Krankheit wird behandelt, sondern der Patient“). Genau betrachtet stimmt jedoch weder das eine noch das andere immer. Zunächst einmal zur Schulmedizin: Sie therapiert häufig erstaunlich unspezifisch! Bekanntes Beispiel: Egal wie spezifisch die Diagnose einer entzündlichen Erkrankung lauten mag, und egal wo diese Entzündung primär stattfindet, ob an Gelenken (Rheuma), im Darm (Colitis ulcerosa), an den Gefäßen (Vaskulitis) oder an der Haut (Neurodermitis) – es wird doch oft primär Kortison verordnet. 

Dagegen scheint die Naturheilkunde im hellen Licht zu strahlen: „Während die Schulmedizin die Symptomatik unterdrückt und die Krankheit selbst als unheilbar bezeichnet, versucht die Naturheilkunde die Selbstregulation des Organismus zu fördern“ – so idealtypisch wird das manchmal gegenübergestellt. Allerdings betreiben auch viele Naturheilkundler*innen reichlich unspezifische Therapie. Das merkt der (die) einzelne Patient(in) selten, aber unter Kollegen ist es schon bekannt: Von 100 Patienten, die zu Kollege XY gehen, bekommen 95 eine Darmsanierung verordnet, bei Kollegin YZ werden 80% „ausgeleitet“ und bei Kollegin ZA erhalten immerhin 70% eine „Basendiät“. Das spricht per se nicht gegen die Therapeuten, sondern zunächst nur für den immensen Wert unspezifischer Maßnahmen in der Medizin (übrigens auch in der Psychotherapie). Die Kunst besteht allerdings häufig in den Feinheiten für den Einzelfall.

Ein gewisser Vorteil der Naturheilkunde besteht darin, dass sie fast immer weiterhelfen kann, egal ob Ihnen seitens der Schulmedizin eine spezielle Diagnose gestellt wurde – oder ob es gar keine Diagnose gibt. Denn auch diese „Fälle“ landen ja zahlreich in den Naturheilpraxen: Die Ärzte haben keine „objektiven Befunde“ erheben können, aber der (die) Patient(in) ist dennoch krank. Den versierten Naturheilkundler bringt das mit Sicherheit nicht aus der Fassung. Das kann daran liegen, dass er den Patienten ganz individuell behandelt (bei der Homöopathie wirkt das bisweilen so), aber auch daran, dass er über ein bewährtes Repertoire an unspezifischen Methoden verfügt.        

Oft geht es nicht ohne Schulmedizin! Und es hilft Ihnen und Ihrem ganzheitlichen Therapeuten, wenn Sie verstehen, warum es nicht so einfach ist bzw. nicht „funktioniert“, ein schulmedizinisches Medikament durch ein naturheilkundliches zu ersetzen: Kortison durch eine pflanzliche Salbe, einen Betablocker durch ein homöopathisches Mittel usw., oder eben auch, warum sich ein schulmedizinischer Spezialist oft nicht mit einem naturheilkundlichen Experten vergleichen lässt.