Gesunde Ernährung kostet viel Geld. Ich halte dies, etwas verkürzt formuliert, für ein Argument von Menschen, die es noch nicht ausprobiert haben. Was daran stimmt: Mensch muss es sich schon wert sein, Geld für gesunde Lebensmittel auszugeben, denn billiger als gesund geht immer. Zwei andere Argumente sprechen dagegen eher aus Erfahrung: Zum einen ist gesunde Ernährung mehr oder weniger zeitaufwändig, ohne Eigenaktivität geht es kaum. Zum anderen gibt es nicht selten Konflikte im eigenen Umfeld, wenn man sich „auf einmal“ gesund ernährt – das kann beim Partner oder den Kindern anfangen, geht über Geschäftsessen weiter und endet bei privaten Einladungen, bei denen man eigentlich vieles nicht anrühren möchte, aber aus sozialer Rücksicht …
Zu der Zeit, als meine Frau und ich die Ernährung ziemlich radikal umgestellt haben, bin ich gerade auch ins Berufsleben als Journalist eingestiegen und habe als rasender Reporter einer Landredaktionen meinen Ehrgeiz ausgetobt und Erfahrungen gesammelt. Nicht selten wurde ich dabei von Gesprächspartnern zu einem Kuchen oder einem Glas Wein u.a. eingeladen. Wenn man das ablehnt, entstehen meist sofort Diskussionen – und zwar über Ernährung statt über die Themen, über ich eigentlich etwas erfahren wollte. Ich glaube zwar, dass es heute wesentlich einfacher ist, sich da abzugrenzen, aber Diskussionen gibt es immer noch häufig.
Ja, wer muss denn auch überhaupt seine Ernährung radikal umstellen? Wer keine ausgeprägten Unverträglichkeiten oder essgewohnheitsbedingte Beschwerden und Symptome (wie Übergewicht) hat, muss dies natürlich nicht. Tatsächlich können auch kleine Veränderungen, die nicht einmal weh tun (und von anderen kaum bemerkt oder kommentiert werden), einiges bewirken, wenn man nur erst weiß, wie der Schalter umzulegen ist: Wer z. B. keine Produkte mit gehärteten Fetten oder vielen Zusatzstoffen mehr kauft und isst, der entlastet seinen Organismus. Oft werden auch, um ein anderes Beispiel aus langjähriger Beratungspraxis zu nennen, die Getränke übersehen: Da wird erzählt, was man alles schon an der Ernährung geändert hat, aber beim „Blick in den Kühlschrank“ (im übertragenen Sinn) entdecke ich dann Cola und Bier oder Wein. Man könnte sich viel Arbeit sparen, wenn man an dieser Stelle zum Verzicht bereit wäre.
Über Verzicht und Disziplin redet allerdings in der Branche niemand gerne, obwohl aufgrund unserer Überflussgesellschaft und den dadurch von klein auf geprägten Gewohnheiten gerade dies nötig wäre. Viele Bücher, die so produziert werden, dass sie optimal konsumtauglich sind, tun sich schwer damit, die Konsumfreiheit in punkto Ernährung in Frage zu stellen: „Ich will essen, worauf ich Lust habe.“ Diese Freiheit ist ein Dogma. Und wer sie in Frage stellt – wird schnell als Dogmatiker abgestempelt. Dogmatiker sind ja immer die anderen. Dabei hat die behauptete Freiheit oft Aspekte von Zwang oder Sucht, erscheint beim genauen Hinsehen mehr wie ein Müssen als ein Wollen. Mir fällt dies immer wieder bei Zucker-Junkies auf (zu denen ich mich phasenweise durchaus selbst zähle): Wenn nur der „Suchtdruck“ oder das akute Verlangen groß genug sind, wird quasi alles für attraktiv und verzehrbar gehalten, darunter auch viele Süßigkeiten, die m.E. in einer achtsamen Stunde wirklich nicht schmecken würden und, kein Zufall, eine erbärmliche ernährungsphysiologische Qualität aufweisen.
Meiner Meinung nach wird erst frei, wer sich von Gewohnheiten und Zwängen befreit und dann kritisch (d. h. wörtlich „unterscheidend“) prüfen und entscheiden kann, was jetzt gerade schmeckt. Eine Ernährungsumstellung bedeutet in mancherlei Hinsicht Verzicht und Disziplin – und ist dadurch zugleich eine Schule der Freiheit und des verfeinerten Geschmacks. Wer einmal erfolgreich gefastet oder sich einige Wochen streng gesund ernährt hat, der wird ganz neue Geschmacksnuancen entdeckt haben und mit ganz anderen Sinnen beurteilen, welches ungesunde Lebensmittel es wenigstens geschmacklich wert ist, verzehrt zu werden.
Das Nein-Sagen-Können bleibt eine wichtige Voraussetzung für gesunde Ernährung. Und damit kehren wir zurück zur vielleicht größten Schwierigkeit, sich gesund zu ernähren: Essen hat eine ganz wichtige soziale Komponente. Vermutlich ernähren sich Millionen von Menschen gegen ihre eigenen Bedürfnisse und sogar Überzeugungen ungesund, ganz einfach aus sozialer Rücksichtnahme oder sozialen Verpflichtungen gegenüber Partnern, Kindern, Kollegen usw.
Man kann mit gesundheitlichem Rigorismus die besten Freundschaften überstrapazieren. Wenn mir ein selbst zubereitetes Mahl oder ein selbst gebackener Kuchen serviert wird, würde ich mir gut überlegen, ob ich mich aus Prinzipien (z. B. „es muss vegan sein“ oder „immer ohne Zucker“) ausgrenze oder nicht lieber genieße, was mit Liebe geschaffen wurde. Allerdings darf dies nicht der alltägliche Grund sein, an ungesunden Ernährungsgewohnheiten festzuhalten oder teilzunehmen. Soviel muss ich mir wert sein und so gut müssten meine Beziehungen und Freundschaften eingerichtet sein, dass ich auch Nein sagen darf.
Was bekomme ich dafür, dass ich mehr in der Küche stehe, mir Konflikte mit anderen einhandle und ab und zu sogar verzichten muss? Oder radikaler gefragt: Kann eine gesunde Ernährungsweise glücklich machen? Wer unter einer falschen Ernährungsweise körperlich gelitten hat und nach einer Umstellung spürt, was ihm bekommt und was nicht, wird dies sicher als Glück erleben – aber solches Glück und solche Dankbarkeit sind möglicherweise nicht von Dauer (zumal vieles, was alltäglich ist, uns bald zu selbstverständlich erscheint und schlechte Gewohnheiten sich gerne „zurückmelden“).
In der weitläufigen Ratgeberliteratur zu Ernährung wird oft der Eigennutz betont: vom Schlankwerden über Schmerz- oder Beschwerdefreiheit bis zum langen Leben und zum Glück. Vielleicht ist es aber auch ein Gewinn für Menschen, die sich bewusst ernähren, dass dazu das Gefühl kommt, in Frieden mit der Natur und anderen Lebewesen zu leben. Eines der Verdienste der jüngeren vegetarischen Bewegung ist es, die ethischen Aspekte unserer Ernährungsformen in den Vordergrund gestellt zu haben. Der Erfolg zeigt: Viele Menschen sehnen sich offenbar nach mehr als Gesundheit, Fitness, Schönheit – oder Einsparmöglichkeiten. Nach mehr als Eigennutz. Nach einem Leben im Einklang.