G wie Geheimnis(se)

Darf es Geheimnisse in engen Beziehungen geben? Jahrzehnte der Familientherapie haben gezeigt, dass es meist nicht gut gehen kann, wenn wichtige Fakten oder Verbindungen unter den Teppich gekehrt werden – z.B. ob ein Kind „in Wahrheit“ adoptiert wurde. Entsprechend haben sich die Haltungen dazu geändert. Ein Klassiker ist natürlich die Frage, ob eine Affäre offengelegt werden sollte. Da scheint die Mehrheitsmeinung zwar eindeutig, aber nicht in der Frage, wie absolut das Offenlegungsgebot gilt.

Die psychotherapeutische Beziehung ist eine spezielle Beziehung – zwischen Patient*in und Therapeut*in, im Falle der Gruppentherapie auch der Patient*innen untereinander. Erfolgreiche Psychotherapie setzt einerseits voraus und bewirkt andererseits, dass sich Patienten öffnen, also treten Dinge ans Tageslicht, die zuvor im Dunkel schlummerten oder bewusst dort festgehalten wurden. Wichtig ist, dass es hier Geheimnisse geben darf, dass keinerlei Gebot zur Offenlegung besteht – Patient oder Patientin entscheiden aus mehr oder weniger freien Stücken darüber, wie sie mit den Geheimnissen umgehen. Mehr oder weniger, weil Gruppendruck und eigene innere Zwänge (z.B. das Bedürfnis zu „beichten“, nicht nur bei katholisch sozialisierten Patienten!) in vielen Fällen die Offenbarungen beschleunigen.

Der Erfolgsausssichten der Gruppentherapie lassen sich auch unter dem Aspekt beleuchten, wie Teilnehmer, Leiter und Gruppe mit Geheimnissen umgehen. Der Öffnungsprozess wird von typischen Geheimnissen begrenzt:

  • Geheimnisse, die die Gruppe gegenüber dem Therapeuten unter Verschluss hält.
  • Geheimnisse, die der Patient vor Mitpatienten und evtl. vor dem Therapeuten hat.
  • Geheimnisse, die Mitpatienten vor dem Patienten im Fokus hegen.
  • Geheimnisse, die im Unbewussten schlummern und von denen Therapeuten etwas ahnen.

Geheimnisse, die die ganze Gruppe gegenüber dem Therapeuten unter Verschluss hält (z.B. dass ein Teilnehmer aktuell Drogen nimmt oder dass zwei Teilnehmer*innen Sex miteinander haben), sind meist tödlich für den Therapieprozess. Als Therapeut hat man das Gefühl, es geht nicht voran, ohne zu wissen, warum – bis vielleicht nach Ausscheiden des Betreffenden das Geheimnis gelüftet wird.

Anders ist es mit Geheimnissen, die ein(e) einzelne(r) Patient*in gegenüber dem Therapeuten oder der Gruppe hat. Die Themen können ähnlich sein: z.B. Alkoholismus, sexuelle Orientierung, schambesetzte Ängste und Zwänge. Meist bindet die Geheimnishütung viel Energie beim Patienten und manchmal auch bei Gruppe und Therapeut. Ohne dass allen dies klar wäre, haben doch die meisten das nebulöse Gefühl, es stimme etwas nicht. Allerdings besteht in einer funktionierenden Gruppe die Regel, achtsam und respektvoll mit diesen Geheimnissen umzugehen, so als ob die Zeit für die Enthüllung noch nicht reif sei. NOCH NICHT. Dies funktioniert zwar nicht mehr so richtig, wenn die gemeinsame Zeit vorangeschritten ist und einzig und allein der Betreffende im Unterschied zu allen anderen immer noch auf seinem Geheimnis sitzt. Dennoch müssen Therapeut und Gruppe eine erzwungene Offenlegung (etwa weil der Therapeut aus den Akten oder aus Einzelgespräch etwas von den Geheimnis weiß) vermeiden, denn sie wäre tödlich für den Gruppenprozess, weil die Angst, zur Preisgabe von Geheimnissen gezwungen zu werden, alle anstecken und das nötige Vertrauen zerstören kann.

Geheimnisse, die Mitpatient*innen gegenüber dem Patienten im Fokus haben (wie sie ihn bzw. sie finden), sind ebenfalls solange kein größeres Problem, wie sie klar im Reich des NOCH NICHT existieren. Hier geht es um den wesentlichen Faktor der Gruppentherapie: das Feedback. Mitpatient*innen sehen im Betreffenden etwas, was er noch nicht sehen kann – und die Frage ist, ob er es annehmen könnte, was mit der weitergehenden Frage zu tun hat, ob die Mitpatient*innen es so formulieren können, dass es nicht wie ein Angriff wirkt, sondern als Botschaft über eine Fremdwahrnehmung und was diese im anderen auslöst. Es kann sich um „positives“ wie „negatives“ Feedback handeln. Produktives Feedback geben, dies beizubringen ist eine der Hauptaufgaben des Therapeuten, allerdings werden die großen Ideale, wie sie etwa Irvin Yalom beschreibt, in den meisten Gruppen, ob ambulant oder stationär doch nie erreicht – ohne dass dies die Gruppe „zerlegt“ oder die Therapie komplett blockiert.

Damit die Lüftung von Geheimnissen für die Betreffenden selbst und die für die Gruppe produktiv wirkt, muss allerdings eine Art wechselseitiger Prozess bestehen, also auch ein Wechsel der Protagonisten, die etwas enthüllen. Ich habe es schon einige Male erlebt bzw. nicht zu unterbinden vermocht, dass Klienten zu schnell zu viel Intimes von sich preisgegeben haben (dafür kann es verschiedene psychodynamische Gründe geben), mit der Folge, dass sie sich selbst danach vor Scham oder verwandten Ängsten nicht mehr in die Gruppe getraut haben – und dass sie andere Gruppenteilnehmer abgeschreckt haben, die Angst bekommen hatten, selbst solche Offenbarungen leisten zu müssen.

Wie ist es mit Geheimnissen des Therapeuten gegenüber Patient*innen? Es kommt nicht selten vor, dass Teilnehmer von Gruppen in der begleitenden Einzeltherapie den Verdacht äußern, ich würde mit für sie unbequemen oder schmerzhaften Meinungen hinterm Berg halten. Manche sagen explizit, dass sie mir nicht „ganz“ glauben oder dass sie glauben, dass ich ihnen nicht glaube. Ja, wenn man sich selbst gelernt hat radikal in Frage zu stellen, erscheint kein Gedanke zu kompliziert, um diese Selbstunsicherheit zu bestätigen. Wer zu mir kommt um zu erfahren, was ich „wirklich“ von ihm halte, also um kritisches Feedback bittet, erhält dies. Meist ist es dann überhaupt nicht schlimm, auch weil ich selbstverständlich die „Kritik“ mit Wertschätzung verbinde, etwa mit dem Feedback, wie sensibel und mutig der Patient ist. Ansonsten bin ich aber „schonungslos“, auch weil ich überzeugt bin, dass Patienten bei allen selbstvernichtenden Haltungen auch einen Sensor für Authentizität haben.

Dann gibt es noch Geheimnisse über mein Leben, für die sich einige Patienten mehr oder weniger brennend interessieren (so viele sind es nicht). Für mich ist klar, dass ich mich nicht an tradierte psychoanalytische Regeln halte, der kalte Spiegel will und kann ich nicht sein („Aha, das interessiert Sie also.“ – „Das scheint ja enorm wichtig für Sie zu sein.“ usw.) Aus vielen Lebensumständen mache ich kein Geheimnis und auch manches, was einer gewissen Geheimhaltung unterliegt, gebe ich dann doch preis, wenn ich den Eindruck habe, es nützt dem Pateinten und der therapeutischen Beziehung. Manchmal „verrate“ ich z.B. Intimitäten, wenn ich das Bild des Patienten von mir korrigieren oder ihn bzw. sie sogar irritieren möchte: etwa wenn ich verrate, dass ich selbst von klein auf unter Prüfungs- und Erwartungsängsten leide und dies früher oft nicht spüren konnte.

Natürlich darf es Geheimnisse in therapeutischen Beziehungen geben – von beiden bzw. allen Seiten. Ich habe es immer wieder erlebt, dass ich mit Patient*innen produktiv gearbeitet habe, und sie erst gegen Ende oder nach Ende der gemeinsamen Zeit in einer Art „Outing“ etwas sehr Wichtiges offenbart haben. Meist gibt es nachvollziehbare Gründe, warum es vorher nicht ging. Bei einer Minderheit hat die vorherige Geheimhaltung die Therapie blockiert und es kommt dann der Aha-Effekt, dass wir um den heißen Brei herumgeschlichen sind. Es kommt also auch vor, aber sehr selten, dass wir in der therapeutischen Arbeit trotz gewaltiger Anstrengung nicht vorankommen und ich mich frage: „Was übersehe ich – oder was verschweigt er (sie) mir?“

Auch in privaten Beziehungen sind Geheimnisse nicht automatisch ein Killer. Soll z.B. eine Frau, die früher alkoholabhängig war, dies ihrem neuen Beziehungspartner frühestmöglich offenbaren, obwohl sie glaubhaft „trocken“ ist? Oder, eine relativ häufige Frage: Soll ein Mann seiner neuen Freundin frühestmöglich sagen, dass er in therapeutischer Behandlung „oder sogar“ in einer psychosomatischen Klinik war? Sicher, irgendwann und nicht zu spät sollte man zu sich in dieser expliziten Weise stehen können und eine Partnerwahl treffen, die dem entspricht. Die Grenze des „Zulässigen“ wird dann überschritten, wenn ich oder der andere das vage Gefühl haben, wir „belügen“ uns oder es sei wohl besser, irgendetwas nicht genauer zu wissen.