Wie geht es weiter? Wird das wieder? Werde ich wieder gesund? Wie lange dauert es? Patientinnen möchten wissen, wie ihre Chancen stehen. Das ist in der Medizin meist schwer zu sagen, obwohl vielfach so getan wird, als könnte man anhand einer exakten Diagnose (z.B. mit bildgebenden Verfahren) und einer dementsprechend maßgeschneiderten Therapie (z.B. mittels chirurgischem Eingriff) auch eine möglichst zeitnahe und vollständige Heilung gewährleisten. Für einen erschütternd großen Teil der „Fälle“ gilt: Schön wär’s. In der Psychotherapie ist es noch schwieriger, vorausschauend über Heilung zu reden. Im Grunde ist der Begriff Heilung, sofern er sich nicht auf den Prozess, sondern ein fiktives Ziel bezieht (im Sinn von vollständiger Wiederherstellung), fragwürdig – nicht nur, weil dieses vermeintliche Ziel manchmal damit verwechselt wird, für immer glücklich zu werden oder zumindest nicht mehr unglücklich zu sein.
Psychotherapie dient häufig zunächst der Stabilisierung, und das kann sie in der Mehrheit der Fälle gewährleisten. Daneben steigert sie die Selbsterkenntnis und die Selbstwirksamkeit: also die Kapazität, auf die eigenen Ressourcen zuzugreifen und sich Herausforderungen zu stellen. Und in diesem Prozess des „Heilwerdens“ können seelische Wunden heilen, mehr oder weniger, und das braucht meistens Zeit und ist ein wenig vorhersagbarer, oft komplexer Prozess. Die Zeit allein richtet es nicht, sondern dass, was wir in und aus der Zeit machen. Wie schnell und wie gut solche Wunden heilen, das ist nicht unbedingt davon abhängig, wie intensiv und beständig wir an diesen Wunden selbst arbeiten. Sicher, das erfahrene Leid will geteilt und betrauert werden. Doch in der Psychotherapie geht es nicht nur um Wunden, sondern fast mehr um jene Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die aus den alten Verletzungen oder aus Angst vor solchen Verletzungen entstanden sind, um wiederkehrende innere und äußere Konflikte, denen sich die Betroffenen stellen. Es geht um die Neuentdeckung des Lebens mit anderen Augen.
Die entscheidende Frage für Therapeuten lautet also nicht: „Werden Sie wieder gesund?“ Sondern: „Inwiefern gelingt es durch die Therapie, dass Sie baldmöglichst ein besseres, insofern gesünderes Leben führen?“ Therapie hilft und lehrt, mit den eigenen Störungen und den Störungen anderer Menschen besser zu leben. Das bedeutet, dass wir uns und andere vom Ideal oder der Norm befreien, normal sein zu müssen oder gar werden zu wollen. Therapie hat viel mit der Befreiung des Individuums zu tun: Wir stellen eine neue Balance her zwischen dem Bedürfnis dazuzugehören und unserem Recht auf Individualität, auch mit dem Recht auf unser Schicksal.
Eine Therapie sollte Menschen von gefährlichen Illusionen „heilen“, sie sollte nicht zu der Illusion beitragen, schwierige Anteile und Tendenzen könnten wir ganz loswerden. Wir benötigen unsere Symptome als wichtige Signalgeber für ein neues, gesünderes Leben: Ängste signalisieren Gefahren, aber auch, wo unsere Sehnsüchte liegen, und Depressionen können anzeigen, dass ich mich vor wichtigen Konflikten und Entscheidungen drücke. Schwierige Anteile verwandeln sich oft auch in Ressourcen, wenn wir sie integrieren, wenn wir etwas mehr „ganz“ werden. Es ist gut, wenn Patienten lernen, dass sie selbst die Experten für sich sind, am ehesten wissen können, was gut für sie ist, was sie brauchen, und lernen, sich dafür konsequenter einzusetzen. Wem das in welchem Umfang und wie genau das gelingt – das wissen wir Therapeuten nicht. Wir haben nur Erfahrungswerte und spekulieren.
Erfolgreiche Therapie „heilt“ auch von alten Glaubenssätzen, aber nie ganz: „Das war schon immer so“ (und wird so bleiben), „So bin ich eben“ (und da kann man nichts machen). Patient:innen beginnen immer wieder aufzuhören, die alte gleiche Lebensgeschichte zu erzählen, nämlich jene, die mit der Brille der tiefen Depression, Apathie und Hoffnungslosigkeit geschrieben wurde und verlesen wird. Therapie lehrt, auch die Ausnahmen im Leben zu sehen und zu erkennen, wie wir selbst massiv Einfluss nehmen auf den Lebenslauf, lehrt uns, mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu wagen – aber auch eine Akzeptanz mit unseren Grenzen: Es gibt Dinge, die wir nicht oder nur begrenzt beeinflussen können, Dinge, die uns als Schicksal widerfahren.
Eine gute Therapie vermittelt Werkzeuge und Einstellungen, die zu mehr Stabilität und Lebenszufriedenheit beitragen, gerade wenn es hart auf hart kommt, viele Wünsche auf der Strecke bleiben und vielleicht sogar alte Wunden wieder aufreißen. Wir „trainieren“ dies in der Therapie unter Bedingungen, die mit denen der Realität nur mäßig übereinstimmen. Die regelmäßige ambulante Therapie hat dabei den Vorteil, dass sie das „Trainingsprogramm“ jede Woche neu anpassen kann.
In der Therapie sollten wir versuchen – um es mit einer bekannten Formel auszudrücken –, den oder die Patient:in zu unterstützen, im Leben mehr von dem zu machen, was gut ist und funktioniert, weniger von dem zu machen, was nicht gut tut oder nicht funktioniert (obwohl es gut tun würde) und immer wieder Neues auszuprobieren. Je mehr es den Betreffenden gelingt, sich auf diese Weise dem Leben zuzuwenden, den eigenen Anteil an der Lebensqualität zu nutzen und auszubauen, desto mehr kann sich auch das Heilungsgewebe an der seelischen Wunde entspannen und vernarben.
Eine sinnvolle therapeutische Strategie orientiert sich am Ziel einer steigenden Lebenstauglichkeit des Klienten, man könnte vielleicht sogar sagen: an seiner künftigen Lebensfreude. Ist es nicht das, was die Frage nach Heilung in der Psychotherapie eigentlich meint: „Wann werde ich wieder fröhlich und freudig sein können – nicht nur für einen Moment, sondern als Grundgefühl?“ Lebenstauglichkeit und Lebensfreude haben zwar mit der Heilung alter Wunden zu tun, sie sind aber weit weniger an diese Heilung gekoppelt, als oft angenommen wird. Vielleicht ist es ein zweiseitiger Prozess, mal heilt etwas an den Wunden und das Leben fällt leichter, mal fällt das Leben leichter und die Wunder verheilen auch besser.
Der folgende Text stammt von Geneen Roth, die sich als schwer essgestörte Frau gewissermaßen selbst „geheilt“ hat, was eben nicht bedeutet, dass die Störung „weg“ wäre, sondern dass Geneen damit gut leben kann – und schon vielen anderen Frauen geholfen hat, sich selbst zu befreien von Schatten der Vergangenheit sowie den dadurch verursachten Zwängen und Störungen.
HEILWERDEN
(von Geneen Roth)
Beim Heilwerden geht es darum,
unsere Herzen zu öffnen,
nicht sie zu verschließen.
Es geht darum, die Stellen in uns,
die die Liebe nicht einlassen wollen,
weich zu machen.
Heilung ist ein Prozess.
Beim Heilwerden schaukeln wir hin und her
zwischen den Misshandlungen der Vergangenheit
und der Fülle der Gegenwart und
bleiben immer öfter in der Gegenwart,
Es ist das Schaukeln, das die Heilung bewirkt
nicht das Stehenbleiben an einer der beiden Stellen.
Der Sinn des Heilwerdens ist nicht
für immer glücklich zu werden,
das ist unmöglich.
Der Sinn der Heilung ist,
wach zu sein und sein Leben zu leben,
nicht bei lebendigem Leibe zu sterben.
Heilung hängt damit zusammen,
gleichzeitig ganz und zerbrochen zu sein.
Hinweis: Das Thema ist bestimmt so groß wie die Philosophie der Freiheit. Wie bei Freiheit lässt sich noch einigermaßen leicht sagen, um was es nicht geht, oder auch, was „Freiheit von“ bedeutet. Aber dann … Kurzum: Ich plane eine Art Fortführung dieses Blogs „Heilung“ unter dem Stichwort „Prognose“. Bis bald 🙂