Als ich drei Jahre alt war, hat sich ein Schäferhund so kräftig in mein linkes Bein verbissen, dass ich im Krankenhaus landete. Narben habe ich bis heute. Mein distanziertes Verhältnis zu Hunden hielt rund 50 Jahre. Dabei ist es wie beim Menschen: Jeder Hund ist anders. Und es ist nie zu spät, die eigene Kindheit zu ergänzen. Vor fünf Jahren hat Inez, meine Frau, entschieden, dass sie jetzt, wirklich sofort, ein Tier will. Ein Pferd war mir in jeder Hinsicht eine Nummer zu groß. Eine Katze ging nicht, da Inez eine Allergie hat. Also sollte es ein Hund werden. Klingt nach Kompromiss. Und war doch Liebe auf den ersten Blick: Mira. Inez sah sie im Internet und kurz darauf, knapp vor Ende der Öffnungszeit, im Tierheim – und alles war klar. Kaum zu Hause, schlug ich vor, dass wir dem Tierheim auf den Anrufbeantworter sprechen: „Wir nehmen sie auf jeden Fall.“
Spielen wie die Kinder, volle Pulle sozusagen, mit Begeisterung. Von Mira habe ich dies und eine Menge mehr gelernt, auch: beim Spielen wie beim Loben mich zum Clown zu machen, nicht nur irgendwie „gut“ oder „schön“ sagen, sondern richtig ausflippen vor Freude (auch wegen Kleinigkeiten), damit Mira weiß: Das war richtig, richtig gut! Und sie ist eine kleine Streberein, sie macht immer wieder eine Menge Dinge richtig gut.
Ich weiß mittlerweile, dass nicht alle Hunde derart auf konkrete Menschen bezogen sind wie unserer. Wenn ich nach Hause komme, zumindest wenn ich länger als zehn Minuten weg war, zeigt Mira, wie ein einziges 40 Zentimeter hohes Hündchen ein ganzes Empfangskomitee ersetzt. Ja, natürlich, wie fast alle Hundehalter, lesen auch wir viel „Menschliches“ in das Verhalten des Vierbeiners, bilden uns ein, Mira würde „jedes Wort verstehen“. Kaum zu glauben, dass der Philosoph Rene Descartes, Begründer des neuzeitlichen Rationalismus, der Ansicht war, Tiere hätten keine Seele. Das liegt vielleicht daran, dass mit Seele eigentlich „Geist“ gemeint war: „Ich denke, also bin ich.“ Kein Wunder, dass Immanuel Kant, der Vollender dieser Philosophie, fast ebensowenig an Wertschätzung für Hunde bzw. Tiere allgemein aufbrachte.
Denken können Hunde wohl kaum, obwohl es oft so aussieht, als würden sie es versuchen. Aber sie haben eine Seele – wer zweifelt, dass es so etwas wie Seele überhaupt gibt, wird bei der Beschäftigung mit Hunden eines Besseren belehrt. Und sie tragen keine Maske, sie sind so echt und unverstellt, das ist herrlich und vorbildlich: Ich liebe es, wenn Mira sich neben mich legt und tief entspannt, so fühlt sich Vertrauen an. Und wenn sie mich anspringt, weil sie mit mir spielen oder weil sie mit mir rausgehen will. Und wenn sie mir die Hand leckt, nachdem ich sie geputzt oder gefüttert habe. Und wenn wir ganz toll toben, knurren, zerren, beißen, sie aber nie richtig zubeißt. Und wenn sie mit dem Schweif wedelt, weil sie sich freut oder weil sie einfach gut Freund sein möchte. Und und und. So einfach geht es anscheinend auch: Leben. Wir machen Achtsamkeitstraining – Hunde sind immer schon im Hier und Jetzt.
Auf die allabendliche Dankbarkeitsabfrage „Was war heute das Schönste vom Tag?“ fangen die Antworten bei uns oft mit „Mira“ an. Arthur Schopenhauer, der von den Menschen und der Menschheit enttäuschte Philosoph, hat beschrieben, wie uns das Herz aufgeht, wenn Hunde mit uns (oder miteinander) in Kontakt gehen. Seine Hunde, allesamt Pudel, nannte er in der Öffentlichkeit – etwa im Restaurant – immer wieder „Atman“, was so viel bedeutet wie: Einzelseele als Teil der Weltseele.
Hunde haben zweifellos viele therapeutische Funktionen, und sie erhöhen die Lebenserwartung, das weiß man aus Studien, v.a. das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben, ist bei Hundehalten reduziert. Liegt das nur daran, dass man als Hundehalter*in zwei- oder dreimal am Tag eine Runde drehen muss? Oder etwa auch daran, dass das Herz mehr Gelegenheit hat, höher zu springen?
Sind Hunde vielleicht die besseren Menschen? Ich glaube, dass Hunde manchmal den besseren Menschen in uns aktivieren und trainieren können. Ansonsten sind sie natürlich so verschieden wie Menschen, und es hängt viel davon ab, welche prägenden Erfahrungen sie mit Menschen gemacht haben. Mira ist total treu, es kann passieren, dass sie nicht frisst, solange nicht beide, Inez und ich, da sind. Natürlich macht dies das Zusammenleben mit ihr manchmal nicht einfacher. Von anderen Hundehaltern erfahren wir, dass sich ihr Hund weder dafür interessiert, wenn „er“ oder „sie“ nach Hause kommt, noch dafür, von wem das Fressen kommt. Mira hat uns draußen lange Zeit „in den Wahnsinn“ getrieben, weil sie keinerlei Leckerli nahm, es war alles so aufregend, egal ob auf der Straße oder im Wald, man konnte ihr also mit Leckerli nichts beibringen, sondern nur durch übertriebene Komplimente: „tolles Mädchen, Supermira, Zaubermaus …“ (am besten in hohen Flötentönen). Auf der anderen Seite möchte ich keinen Hund haben, der für irgendetwas Fressbares mich und alles andere in der Welt sofort vergisst.
Natürlich vergisst auch Mira manchmal, was sie darf und nicht darf. Und dann? Sigmund Freud, dessen Hunde bei Therapiesitzungen dabei waren, vertrat die Meinung, Hunde hätten eine Art Über-Ich, also wie Menschen als Folge der Erziehung ein schlechtes Gewissen. Ich glaube, hier passt eher der Sponti-Spruch: „Hunde sind wie Männer (oder umgekehrt). Sie verstehen wohl, dass sie ausgeschimpft werden, aber nicht, warum.“
Tatsächlich ist Verstehen und Nicht-Verstehen ein eigenes Thema. Es tut gelegentlich schon weh, Mira dies oder das nicht erklären zu können. Sie versteht zwar (nach langem, kleinschrittigem Training in der ersten Zeit), dass „Einkaufen“ bedeutet: Wir gehen weg und kommen wieder. Aber es gibt auch viele Dinge, die sie definitiv nicht versteht, z.B. warum wir sie bei anderen „abgeben“, wenn wir länger weggehen. Und umgekehrt verstehen wir ja oft nicht, was ihr „fehlt“, wenn es ihr nicht gut geht.
Vermutlich ist das so ähnlich wie mit kleinen Kindern und macht das Erleben so intensiv: dass unsere „inneren Kinder“ mitgehen, wenn unser Hündchen sich als Wölfchen, Häschen, Füchslein, Maus, Maulwurf oder Spätzchen zeigt. Wir fühlen mit, möglicherweise fällt uns Empathie hier leichter als bei Menschen. Für Schopenhauer, der den Frankfurter Tierschutzverein mitgründete, war die Tatsache, dass wir mit Tieren mitfühlen können, ein hinreichender Grund dafür, dass wir sie auch philosophisch als moralische Subjekte einstufen müssen. Vordem galten sie nur als Dinge, über die biologische Verwandtschaft von Mensch und Tier war damals noch nichts bekannt, die Evolutionstheorie wurde erst im Todesjahr von Schopenhauer veröffentlicht (1859).
Von den philosophischen Anhöhen werden wir manchmal unsanft ins Tal des Alltags geholt. Ein Hund ist ein soziales Handicap, zumal eine ängstliche Hündin aus dem Tierschutz, die sich vor Männern und Kindern fürchtet – und sofort knurrt oder bellt, wenn Fremde sie anschauen oder auf sie zugehen. Selbst (vermeintliche) Hundeversteher verstehen das nicht immer. Vieles an Sozialkontakten ist nicht mehr so einfach möglich wie zuvor, manches nur noch unter bestimmten Bedingungen. Der Hund geht vor? Mal scheint es so, mal ist es so. Dass Mira so wichtig ist, dass sie dies und das darf, dass sie eine solche beneidenswerte Herzlichkeit bei uns auslöst … dies und manches mehr versteht nicht jeder Mitmensch. Und ich verstehe das gut oder anders gesagt: Ich verstehe es auch nicht, dass sie einen so prominenten Platz in unserem Herzen bekommen konnte, so als wäre da vorher nichts gewesen oder als hätte man da eine ganze Kammer freigeräumt, das ist schwer zu begreifen. „Es ist wie es ist, sagt die Liebe.“ (Diese Zeile aus einem Gedicht von Erich Fried ist unser Hochzeitsspruch.)