Diagnose, Prognose, Therapie – die Medizin schafft Voraussetzungen, damit Patienten heilen können. Dafür muss auch die Selbstheilung aktiviert werden. Die Naturheilkunde beruft sich hier gerne auf Paracelsus: „Der Arzt verbindet nur deine Wunden, dein innerer Arzt aber wird dich gesunden.“ Allerdings benötigt auch die Hochschulmedizin für Erfolge die aktive Teilhabe dieses „inneren Arztes“, und in welchem Umfang, das wird erst nach und nach deutlich.
Fast alles, was wir über die praktische Medizin heute wissenschaftlich wissen, hat schon eine Schlagseite: Zu Medikamenten beispielsweise gibt es kaum unabhängige Studien und dementsprechend auch keine neutralen Publikationen. Selbst die an einer Hand abzählbaren pharmaunabhängigen Organe wie das „arznei-telegramm“ können bei aller professionellen Skepsis nur über die Studien berichten, die mal jemand, also die Pharmaindustrie bezahlt hat. Wenn 90 oder 95 Prozent der klinischen Forschung pharmafinanziert sind, dann prägt dies nicht nur die konkreten Ergebnisse, sondern auch das Denken und die Richtung, in die sich diese Wissenschaft bewegt. Erstaunlich ist allerdings, wie viel Kritisches trotz dieser Bedingungen aus dem medizinisch-wissenschaftlichem Sumpf zutage gefördert werden kann und wie intelligente Forscher, Verzerrungseffekte zugunsten der Pharmaindustrie bei Zweitauswertungen und Übersichtsarbeiten wieder herausrechnen.
Die Hochschulmedizin hat ihre Vorstellungen bzw. macht Vorgaben, was überhaupt als „Medizin“ gelten darf: es muss sich in Studien bewährt haben. Die Teilnehmer werden dabei per Zufall (randomisiert) auf die beiden Gruppen echtes Medikament (Verum) und Scheinmedikament (Placebo) verteilt, weder der/die Patient*in noch der/die Ärzt*in weiß, welches Mittel gegeben wird (doppelblind). Zu diesem angeblichen Goldstandard der medizinisch-wissenschaftlichen Studiendesigns bemerkt Prof. Harald Walach (siehe Buchtipp): „Es ist so, als hätte man einen Meterstab, geeicht am Urmeter in Paris, und alles muss mit diesem Maß gemessen sein.“ Man tut so, als wäre Länge das einzig relevante Kriterium. „Was noch schlimmer sein könnte: Das ‚Metermaß‘, mit dem wir messen (die Doppelblindstudie), verwendet einen Maßstab, der sich dauernd verändert.“ Denn der Effekt in der Placebogruppe „verändert sich mit dem Kontext, den Erwartungen und den klinischen Botschaften.“
Klingt vielleicht etwas kompliziert, ist aber einfach: Placeboeffekte, die man so gerne der Naturheilkunde nachsagt, spielen auch in der konventionellen Therapie eine immense Rolle, d.h. der Nutzen von Medikamenten wird hier oft kolossal überbewertet – in Wahrheit ist es oft der „darunter“ liegende Effekt der Selbstheilung, der den Hauptanteil ausmacht. Doch eine noch so kleine Differenz der Wirkungen in Placebo- und Verumgruppe kann statistisch „signifikant“ gemacht werden, wenn man nur genug Geld hat für eine Studie mit möglichst vielen Teilnehmern. Und diese „Signifikanz“ wird dann wahrlich in die Welt hinausposaunt! Googlen Sie einmal, welchen Ausgabenanteil das Marketing in bekannten Pharmaunternehmen hat.
Umgekehrt kann der Nutzen einer Therapie, die im Placebotest „durchgefallen“ ist, im therapeutischen Alltag wesentlich ausgeprägter und relevanter sein. Harald Walach erklärt dies anhand der großen GERAC-Studien zur Akupunktur bei Schmerzen: In keiner der Studien war die fachlich korrekte Akupunktur erfolgreicher als Scheinakupunktur (Placebo). Darüber haben sich mancher schulmedizinischer Autor und manches Medium genüsslich ausgelassen. Aber, Moment mal: Sowohl bei Kniearthrose als auch bei Rückenschmerzen waren Akupunktur und Scheinakupunktur beide jeweils „doppelt so wirksam wie das Beste, was die deutsche (konventionelle) Medizin zu bieten hat.“
Der Grund für diese zunächst kuriosen Ergebnisse: Die Selbstheilungstendenz scheint der eigentliche Motor der Besserung zu sein. Und dieser Motor springt bei Scheinakupunktur offenbar teilweise so gut an wie bei der echten. Walach führt hierfür ein schönes Bild ein: Der Effekt der spezifischen Therapie „reitet“ auf dem Placeboeffekt, auf der Selbstheilungstendenz, die eben je nach Therapie und den Umgebungsbedingungen sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Aus diesem Grund gibt es auch HP-Kolleg*innen, die Sprechstunde im weißen Kittel abhalten und dies vor einer hübschen Wand mit allerlei Medikamenten und Schautafeln, die auch mal mit Spritzen hantieren, selbst wenn es mit einem oralen Medikament auch ginge. „Eindruck schinden“ wäre übertrieben und würde die Motive fälschlich als unlauter und die Effekte als „Täuschung“ darstellen. Es ist einfach stimmiger und erfolgreicher, für die Therapeut*innen und die Patient*innen. Diese Effekte treten im Übrigen sogar bei chirurgischen Eingriffen auf: Scheinoperationen wirken teilweise genauso gut wie die richtigen, der Motor der Selbstheilung wird angeworfen – durch all das Drumherum von CT-Bild, Vorbesprechung, Narkose bis Krankenbett und Reha.
Sicher, als Therapeuten werden wir uns nie damit zufrieden geben können, dass das unspezifische Erzeugen von Heilungserwartungen der oft ausschlaggebende Effekt der eigenen Arbeit sei – es sei denn, man arbeitet als Psychotherapeut und bekennt sich dazu, hauptsächlich über Zuversicht zu „wirken“. Außerdem gibt es noch das pragmatische und ethische Problem: Wenn der/die Patient*in zu viel weiß über diese Zusammenhänge, dann funktioniert es möglicherweise auf einmal nicht mehr so gut, weil er/sie sich nicht mehr so gut in die Rolle Patient*in fallen lässt. Sollte man ihm/ihr daher solche Aufklärung vorenthalten? Was wäre denn, wenn der/die Patient*in gar nichts dabei findet, sich selbst zur Heilung zu „programmieren“? Das gehört zwar nicht gerade zum Standard in der gegenwärtig dominanten Medizin, auch nicht in der Naturmedizin, aber was nicht ist, könnte ja noch werden.
Die konventionelle Therapie oder Schulmedizin soll hier nicht in Bausch und Bogen verworfen werden, zumal die Naturmedizin zu einem größeren Teil nicht grundsätzlich anders funktioniert, nur häufig nebenwirkungsärmer. Und das ist schon ein Punkt: Wenn die Nebenwirkungen der spezifischen Therapie (z.B. Medikamente, Operationen) gravierend sind (und die Kosten überdies sehr hoch …), müssten wir uns in Erinnerung rufen, dass die Eigenaktivität des Organismus oft der maßgebliche Beitrag zur Heilung ist – und dass wir diesen vielleicht anders besser fördern können. Nebenwirkungen der konventionellen Medikamente sind die dritthäufigste Todesursache. Die Naturheilkunde schneidet bei chronischen Krankheiten manchmal besser ab, auch wenn viele ihrer spezifischen Methoden nicht „wissenschaftlich erwiesen“ sind.
Wird ein wichtiger Grundsatz jeglicher Medizin, nicht zu schaden (primum nihil nocere), wirklich ernst genommen, müsste das überhebliche Lächeln von Schulmedizinern gegenüber der Naturheilkunde eigentlich verschwinden. Im Grunde könnte sich doch „die ganze Medizin“ mehr darum kümmern, wie die besten Voraussetzungen für Heilung zu erzeugen sind – und dann auch dafür, dass der Mensch gar nicht erst krank wird. Zur Medizin gehören ja nicht nur Diagnose und Therapie, sondern ursprünglich auch Prophylaxe und Prävention. Doch die „laufenden Geschäfte“ haben uns dies vergessen lassen und verhindern die Neugeburt der wirklich ganzheitlichen Medizin. Es haben zu wenig Akteure im Gesundheitswesen ein Interesse daran. Es ist ein bisschen so, als würde man im Autoland Deutschland die autofreie Zukunft planen. Das ist Utopie. Bisher.
Buchtipp: Harald Walach, Heilung kommt von innen. Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen, Knaur Verlag, München 2018