O wie Optimismus

Wenn ich nochmals auf die Welt käme, wäre ich gerne ein Optimist, zumindest etwas mehr davon: Jäger sein, ohne dass es Gejagte gibt, Unternehmer werden, ohne auszubeuten, mit dem Mut etwas zu riskieren und aufzubauen, Niederlagen wegstecken und sich durchsetzen, also auch etwas mehr Draufgänger. Umgekehrt könnte man es auch negativ formulieren: Nochmals leben, und zwar ohne Ängste und Depressionen, Kontrollsucht und Zwänge. Jaja, ich weiß, es ist Quatsch, ohne all das leben zu wollen. Wenn Optimismus die Abwesenheit von diesen Gefühlen, Eigenschaften oder Symptomen beinhalten würde, wäre er gefährlich (und das ist er für einige Menschen auch, die diese Symptome nicht haben oder wahrnehmen).

Man kann beides sein, pessimistisch und optimistisch. Ich bin von Haus aus eher pessimistisch und aus Übung heraus optimistisch. Mein Arbeitsumfeld erlaubt es mir, meine lebensfrohen, mutigen und zuversichtlichen Anteile (werk)täglich zu füttern, zu zeigen und einzusetzen. Auf die Frage: „Was ist Deine Quelle? Woher bekommst Du diesen Optimismus?“ habe ich schon manchmal – egal ob Kollege oder Patient gefragt hatte – geantwortet: „Von der Begegnung mit Dir.“ Ich bin gewissermaßen ein lebender Beweis (:-)), dass das Umfeld, in dem eine(r) sich bewegt, einen großen Anteil daran hat, wie sich der Mensch psychisch erlebt und ausdrückt, ein Beweis, wie das Umfeld uns ermöglicht, das seelische Potenzial zu realisieren. Leider, und das ist mehr als eine Randbemerkung, entlassen wir Therapeuten viele Patient:innen in das gleiche krankmachende Umfeld, aus dem sie gekommen sind. Nur wenigen von ihnen gelingt es, den Spieß umzudrehen und als Gesundheitserreger zu wirken.

Eine Mischung aus Optimismus und Pessimismus: In Bezug auf die Psychotherapie im Rahmen einer Akutklinik bin ich ziemlich optimistisch – egal wie deprimiert, ängstlich, aggressiv usw. die Patienten ankommen, die Mehrheit von ihnen wird fundamentale Verbesserungen erfahren. Doch meinen Optimismus im Rahmen der Therapie kann ich nur begrenzt auf das Leben vieler Patienten übertragen. Ja, nicht einmal komplett auf mein eigenes „übriges“ Leben. Mich graut vor Alter, Krankheit, Einsamkeit und Leiden. Positiv empfinde ich an der Zukunft vor allem, dass ich manche abartige Fehlentwicklung wohl nicht mehr im vollen Umfang erleben werde – das ist reinster Kulturpessimismus. In Bezug auf Geschichte, Gesellschaft und Politik bin ich genau so pessimistisch geblieben, wie mich Ex-Kollegen aus meiner journalistischen Zeit kennen. Seit Corona ist das bekanntlich nicht besser geworden … Der Fortschrittsglaube, wie er etwa von Politikern verbreitet wird, ist für mich kaum erträglich.

Die Idee der kognitiven Verhaltenstherapie, dass wir unsere Glaubenssätze und automatisierten Reaktionsmuster prüfen und ändern können, überzeugt mich. Ich halte viel davon, immer wieder neue Glaubenssätze mit neuem Verhalten auszuprobieren und sich selbst zu beweisen, dass „mehr drin“ ist als unser Pessimismus sehen will. So gesehen hat mich die psychotherapeutische Arbeit selbst verändert: Wie viele hundert oder gar tausend Male habe ich an Glaubenssätzen von Patienten gearbeitet, den Realitätscheck und die Prüfung der Wahrscheinlichkeiten (ob wirklich Schlimmes, Gutes oder einfach Neutrales passieren könnte) durchgeführt, mit Patienten zusätzlich zu dem Schlimmen, was sie oft als Zukunftsprognose annehmen, noch zwei, drei Alternativoptionen erarbeitet, bin viele kleine Schritte innerlich und manchmal äußerlich mitgegangen. Daher bin ich im Vorteil, es blieb bei so viel Übung in der Summe schon etwas hängen – bei mir. Umso schlimmer, dass ich zu größeren Teilen doch Pessimist geblieben bin.

Man könnte jetzt sagen, was soll’s, der Pessimismus ist halt ein neurobiopsychologisches Erbe der Evolution: Die Kreatur muss ständig auf der Hut sein und Schlimmes für möglich halten bzw. vermeiden. Ich bin nicht überzeugt von dieser Sichtweise, v.a. erklärt sie nicht die immensen individuellen Unterschiede. Da schaue ich dann doch lieber auch die persönliche Biografie, halte den Pessimismus nicht für angeboren, sondern erworben.

Dann gibt es noch eine Erklärung, die die Last des Pessimismus etwas erträglicher macht: Ist Pessimismus nicht der wahre Realismus in Bezug auf das Weltgeschehen? Demnach müsste man ganz viel Realität verdrängen, um fröhlich und optimistisch zu sein – und dabei weltfern, egoistisch zynisch?  Oder man nimmt die Schwierigkeiten in Kauf und geht drauflos, nicht voll-optimistisch, aber kämpferisch nach dem Motto: „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren.“ Pragmatischer Optimismus als eine Haltung wäre demnach mit dem weltanschaulichen Pessimismus vereinbar.

Bei spirituellen und gläubigen Menschen begegnet mir diese Mischung öfters. Wir dürfen diese Vorbilder imitieren. Wir dürfen so tun als ob – als ob wir den Glauben nicht aufgeben würden. Es ist praktisch Therapie, denn unseren Neuronen ist es egal, ob wir es „wirklich“ glauben oder ob wir „nur“ die Haltung einnehmen, weil wir es besser finden als uns hängen zu lassen. Für mich ist ein Vorbild Dietrich Bonhoeffer, seinen Text zum Optimismus finden Sie im Anschluss.

Zuvor möchte ich Ihnen noch sagen, dass Optimismus und Pessimismus eigentlich keine Kategorien der Psychotherapie sind. Als Therapeuten interessiert uns nicht, ob der Optimismus oder der Pessimismus besser oder wirklichkeitsadäquater sind – handelt es sich doch bei beiden, wie bei vielen „ismen“, und vor allem wenn jemand sehr darauf herumreitet, meist um Ideologie, also um Selbstschutz vor der therapeutisch nötigen Ehrlichkeit. Uns interessiert vielmehr, wenn und warum sie sich dem Pessimismus ergeben. Falls es Ihnen nicht gelingt, auch mal optimistisch zu sein, könnte es daran liegen, dass sie psychisch krank sind. Dazu werde ich demnächst eine Fortsetzung liefern.

Jetzt der Text von Dietrich Bonhoeffer:

Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.