D wie Demokratie

Vorbemerkung: Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einmal in meinem Blog, in dem ich über mehr oder weniger zeitlose Erkenntnisse und Weisheiten der ganzheitlichen Therapie philosophieren wollte, dieses Stichwort bearbeiten würde: Demokratie. Und ich bin mir immer noch unsicher, ob ich es überhaupt tun soll. Die einfachste Lösung meiner Grübeleien wäre ja, dass ich mich diesbezüglich verrannt habe. Dass nicht wir alle aufwachen und unsere politische Welt nicht wiedererkennen, sondern dass ich aufwache und wie viele andere sage: „Wird schon wieder.“ Ich habe rund 25 Jahre als Journalist gearbeitet, davon fast 7 Jahre als Politik- und 15 Jahre als Gesundheitsjournalist. Sehen Sie es mir nach, wenn ich mir hier einmal Luft verschaffe. Alles Gute und trotz allem und erst recht: Frohe Ostern für Sie!

Der größte Irrtum – oder darf man vielleicht sagen: das größte Vergehen – von Politikern und Journalisten besteht darin zu behaupten, und sei es nur implizit, dass „wir“ uns jetzt, also in außergewöhnlichen Krisenzeiten, keine Diskussionen leisten könnten. Gerade dann ist der Souverän gefragt und sein legitimierter Vertreter: das Parlament.

Seltsam, ständig müssen sich Politiker mit einer Fülle von Themen befassen und darüber entscheiden, obwohl sie für diese Themen seltenst selbst Fachleute sind. Und auf einmal ist jetzt das Parlament nicht kompetent genug, um offen über den Kurs des Landes zu diskutieren und zu entscheiden? Zu entscheiden, welche Gesetze es benötigt (oder welche in ihrer Gültigkeit beschränkt, gar ausgesetzt werden dürfen)? Statt dessen wird mit Erlassen und Verordnungen regiert, ich vermute durchaus: in guter Absicht, und kann es doch nicht gut finden.

Nicht weniger kurios: Medien haben im Allgemeinen wenig Hemmungen, allerlei Themen aufzugreifen, wenn sie spannend oder spektakulär genug erscheinen – auch wenn die Zahl der Fachleute in den Redaktionen in dieser oder jener Angelegenheit ziemlich gering ist. Da zitiert man dann gerne Experten, um den „Trend“, den der Beitrag von der Redaktion verliehen bekommt, zu kaschieren. Und jetzt auf einmal gibt es erst recht nichts mehr zu hinterfragen, jetzt zählen nur noch die „Fakten“?! Dabei lernt jeder Journalist im Grundkurs, dass Fakten an sich – trotz der prinzipiell sinnvollen Unterscheidung von „Bericht“ und „Kommentar“ – weder eine Geschichte erzählen noch ein Argument darstellen.

Es geht immer um Deutung. Was haben wir Zeitungsvolontäre, also ich und wahrscheinlich auch ein paar andere, uns damals schlau und ein bisschen überlegen gefühlt, als ein neues Magazin mit dem Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ für sich warb. Wie lustig! Und heute? Ist die ehemalige Konkurrenz, die sich etwas auf investigativen Journalismus eingebildet hatte, auf das gleiche Niveau abgesunken. Wann hat der SPIEGEL eigentlich das letzte Mal wirklich etwas enthüllt, was er nicht von Enthüllungsplattformen u.ä. abgekauft hätte? Nur seine eigene Anfälligkeit, für gute Stories über Leichen zu gehen, Stichwort Relotius.

Ich weiß, dass ich in diesem Punkt ungerecht bin. Schwarz-Weiß-Denken wie dieses passt nicht zur Demokratie, und Freund-Feind-Schemata werden typischerweise von antidemokratischen Ideologen gepredigt. Dennoch: In der Corona-Krise haben sich führende Medien für eine Form von Kriegsberichterstattung entschieden, noch bevor der Krieg begonnen hatte. Einen innerredaktionellen „Pluralismus“ konnte ich nicht erkennen. Das macht Kampagnenjournalismus aus. Und wenn es dann zufälligerweise die Kampagne ist, die das RKI verficht, darf man auch harte Worte wie „Propaganda“ nicht scheuen, um Menschen aufzuwecken.

Kritik und Alternativen wurden weder intern noch extern gesucht, was die edle Aufgabe der Medien in der Demokratie wäre. Stattdessen hat man Kritiker des offiziellen Kriegskurses verleumdet und ihre Kritik als „gefährlich“ für die individuelle und die Volksgesundheit gebrandmarkt. Vermutlich werden diese Totengräber der Demokratie und des Pluralismus, ebenso wie die Regierung, weiterhin auf abenteuerliche Weise die Corona-Toten zählen, weil sie sonst einräumen müssten, auf dem Holzweg gewandelt zu sein oder zumindest, nicht genau zu wissen, wohin das eigentlich führen soll, was sie Strategie nennen.

Es ist keine Schande sich zu irren. Es ist eine Schande, die eigenen Entscheidungen als alternativlos zu bezeichnen und am Irrtum festzuhalten. Vielleicht muss ich selbst auch bald sagen: Ich habe mich geirrt, aber wie sollen wir besser  verstehen, was geschieht, wenn es keine Transparenz gibt, sondern wir mit Totenstatistiken genarrt werden?

„Im Krieg hat das Parlament nichts zu sagen.“ Das ist ein Argument von Monarchen („Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch das deutsche Volk“) und nationalistischen sowie faschistischen Parteien („Wir brauchen keine Schwatzbude“). Es gibt leider heute noch und wieder viele Länder, bekanntlich auch in Europa, in denen nationalistische und autokratische Parteien den Ton angeben und den Sinn einer Opposition prinzipiell in Frage stellen.

Doch was ist in der Bundesrepublik Deutschland los? Warum blieb die Opposition so still? Die AFD findet es natürlich prima, wenn der Staat sich nationalistisch-protektiv und autoritär aufführt, und ja, Gott sei Dank hat sie den Kurs der Regierung mitgetragen. Stellen Sie sich vor, ausgerechnet die AFD wäre in diesem Fall als Opposition aufgetreten? Ausgerechnet sie hätte sich als Heimat für Kritiker angeboten. Bei der quasi natürlichen Nähe der Rechtsradikalen zu Verschwörungstheorien wäre das so denkbar wie verheerend.

Und die anderen – haben Sie von denen etwas gehört außer allgemeine Sonntagsreden, dass man nach dieser Krise dies und das und jenes …? Gähn! Wohlfeile Forderungen, die man auch sonst jeden Tag aufstellen könnte und aufgestellt hat. Die fast jeder überliest, weil er gerne etwas zur Krise selbst hören würde. Plus irgendwelche Kraftworte gegen den Neoliberalismus und Forderungen für die soziale Marktwirtschaft (die man gerade zugunsten eines Treuhandkapitalismus abzuschaffen droht). Was ist denn mit Forderungen für hier und jetzt in der Krise?! Alles salutiert der Kanzlerin und dem Kriegs- bzw. Corona-Kabinett? Warum hat niemand eine Diskussion über die „Fakten“ und die Zusammenhänge eingefordert? Im Parlament!

Man diskutierte in der Vergangenheit im Bundestag lang und breit und erfreulich pluralistisch über medizinische bzw. bioethische Themen wie Präimplantationsdiagnostik, Organspende und Sterbehilfe. Stets ging es dabei um Fragen wie: Wer darf wie leben und wer darf oder muss wie sterben? Um das Verhältnis von Minderheiten, die evtl. „Nutznießer“ sein könnten und Mehrheiten, die dafür etwas leisten müssen. Es ging immer um Leben und Tod! Meist wurde dabei, bemerkenswerterweise, der Fraktionszwang aufgehoben. Und nun, da es um ein bioethisches Thema geht, was alle betrifft, taugt der Parlamentarismus nichts? Da schwärzt man lieber ehemalige Parlaments- und Ministerialkollegen an, als handelte es sich bei Ihnen um Agenten des Darknet. Dr. Wolfgang Wodarg, der in früheren Jahren als SPD-Bundestagsabgeordneter prominent an einigen der genannten Debatten teilgenommen hat, ist für mich ein Held in der Corona-Krise der Demokratie, und das ganz klar auch für den Fall, dass er sich medizinisch-inhaltlich in einigen Punkten geirrt haben sollte. (Zugegebenermaßen war bzw. ist er im Vergleich zu anderen Politikern als Arzt mit reichlich Erfahrung und Kenntnissen in Epidemiologie im Vorteil …. )

Keiner hat sich wie er getraut, eine abweichende Meinung zu äußern, mit andern Worten: Keiner hat sich getraut, sich eine eigene Meinung zu bilden. Das aber ist die Aufgabe von Politikern: sich mit den brennenden Themen wirklich zu beschäftigen, auch wenn man selbst kein Fachmann in der Sache, also hier: Mediziner oder Wissenschaftler, ist. Weder Fakten noch Virologen können uns regieren, das sind Notlügen der politischen Feigheit.

Die Selbstentmündigung von Journalisten und Politikern muss ein Ende haben. Irren ist menschlich! Und es ist ein großer Vorteil der Demokratie, dass man sich irren darf. Und dass man unterliegen kann mit seiner Meinung und mit seinen Forderungen. Nur Diktaturen behaupten, Irrtümer seien unmöglich, etwa weil man den Lauf der Geschichte wissenschaftlich-dialektisch oder die Überlegenheit der weißen Rasse biologisch-wissenschaftlich bewiesen habe … und ähnlicher Unfug mehr. Auch unsere Demokratie braucht dringend Beatmung! Und, es ist noch kein ausreichendes Indiz für demokratisches Prozedere, wenn (angeblich!) 93% der Bundesbürger den Kurs der Regierung gut heißen.

Besser spät als nie – Rückkehr zur Demokratie!

(Stand: Ostersonntag, 12.04.2020)

Nachtrag im Herbst 2021: In den vergangenen eineinhalb Jahren bin ich gelegentlich gefragt worden: „Hast Du vielleicht ein Problem damit, dass die Mehrheit bestimmt?“ Der meist eher rhetorisch gemeinten Frage liegt allerdings ein seltsames „Demokratieverständnis“ zugrunde: Wer die Mehrheit mit Schreckensszenarien und Zwangsandrohungen auf seine Seite gebracht hat (die Politiker, die wir vorher irgendwann einmal in der Tat demokratisch gewählt haben), der darf es der Minderheit so richtig zeigen! Solches Denken ist mitnichten demokratisch, denn in einer (neuzeitlichen!) demokratischen Gesellschaft sind Respekt und Schutz für Minderheiten sowie die Achtung von Grundrechten eines jeden fest eingebaut, viel eher ist solches Denken faschistoid, es passt zur Idee der Volksgemeinschaft (ich wage sogar die These, dass die Herrschenden aus diesem Grunde so verliebt sind in die absurde Idee einer Herdenimmunität). Diese autoritäre und reaktionäre Schräglage fällt jedoch nicht weiter auf, wenn alle etablierten Parteien mitmachen und ausgerechnet die traditionell antifaschistischen Kräfte, die sich als Linke und Liberale verstehen, besonders eifrig mitmischen. Wer sich im Besitz der heilenden oder sakrosankten Wahrheit wähnt – und die war zu Nazizeiten wie in der DDR streng wissenschaftlich begründet – , der findet nichts oder wenig dabei, Andersdenkenden die Spritze an den Arm zu setzen und den Verfassungsschutz auf den Hals zu hetzen. Ja, ich habe ein Problem mit dieser Art von Mehrheitsherrschaft, aber kein Problem mit Demokratie.

Hinweis: Liebe*r Leser*in, meine Blog-Beiträge, die sich im März und April 2020 mit Aspekten der Corona-Krise beschäftigten (neben „Corona“ sind das „Demokratie“, „Pandemie“ und „Impfen“), wirken z.T. etwas überholt. Für aktuelle oder immer noch gültige Einschätzungen der Pandemie und der staatlichen Gegenmaßnahmen verweise ich gerne auf verschiedene Beiträge von Prof. Harald Walach sowie auf die Leseempfehlungen in der Rubrik Corona-Perspektive(n).