M wie Müdigkeit

Als Heilpraktiker und Medizinjournalist habe ich mich früher ausgiebig mit den körpermedizinischen und naturheilkundlichen Aspekten von Müdigkeit befasst. Sie kann eine Begleiterscheinung von mehr oder weniger bekannten Fehlfunktionen sein. Theoretisch sollten dies ihre Hausärztin oder ihr Hausarzt auf dem Schirm haben und checken: Schilddrüsenunterfunktion, Anämie (Blutarmut, Eisenmangel u.a.), Leber- und Nierenerkrankungen, Diabetes … bis hin zur Müdigkeit als Folge bzw. Nebenwirkung von Medikamenten wie Betablockern (und anderen Blutdrucksenkern), Beruhigungs- und Schmerzmitteln (insbesondere Opioiden). Manchmal findet sich allerdings keine Ursache, außer Stress und damit verbunden Schlaflosigkeit. Chronischer Stress führt zu Schlaflosigkeit – obwohl „somatisierende“ Patienten (also solche, bei denen körperliche Symptome im Vordergrund zu stehen scheinen) meinen, es sei andersherum („wenn ich wieder schlafen könnte, wäre der Stress erträglich“). Jedenfalls führen Stress und Schlaflosigkeit im Verein zu Müdigkeit. So kommen wir in den Bereich der Psychosomatik. Im folgenden Beitrag geht es ausschließlich um einige – nicht alle – psychosomatische Aspekte von Müdigkeit. Diese soll die körpermedizinische Perspektive nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Wenn ich mal eine „Befindlichkeitsrunde“ zu Beginn der Gruppentherapie mache, gebe ich als Regel vor: „Der Begriff ‚müde‘ ist genau einmal erlaubt.“ Sonst würde nämlich oft die Hälfte der Patient*innen „müde“ oder „ich auch müde“ sagen. Müdigkeit ist ein zentrales Symptom der Depression, und speziell wenig therapieerfahrene Patienten können noch nicht hinter die Müdigkeit spüren und müssen es lernen.

In der Therapie ist Müdigkeit ein Schutzmechanismus (natürlich auch im wahren Leben): Er bewahrt davor, die eigentlich notwendigen Ängste wirklich wahrzunehmen, allgemeiner ließe sich sagen, Müdigkeit ist der bleischwere, depressive Schutzmantel, der verhindert, dass wir unseren aversiven (schmerzhaften) Gefühle wahrnehmen; leider aber auch die schönen Gefühle. Zum anderen kann Müdigkeit in der Therapie davor bewahren, in Konflikte zu geraten. Jemanden, der (sehr) müde ist, kann man nicht konfrontieren, d.h. mit ihm oder ihr über Aspekte reden, die r nicht wahrhaben möchte oder kann. In diesem Punkt hat die Müdigkeit ähnliche Funktionen wie chronischer Schmerz, der sich stets „rechtzeitig“ zu Beginn von Therapieeinheiten besonders heftig meldet (und manchmal sogar dazu führt, dass Patient*innen gleich von der Therapie befreit werden): Schmerz lenkt die eigene Wahrnehmung und die der Mitmenschen ab, schützt vor der Konfrontation mit sich selbst und durch andere. Dabei geht es nicht, und man muss das immer wieder klarstellen, um Manipulation, sondern um Psychosomatik.

Müdigkeit als Symptom der Depression wird allgemeiner als Antriebslosigkeit und Anhedonie (keine Lust zu gar nichts) bezeichnet. Für Außenstehende wirkt es manchmal so, als müssten sich die Betroffenen doch nur mal einen Ruck geben und den inneren Schweinehund überwinden. Da ist durchaus etwas dran und es stimmt halt doch nicht. Was dran ist: Bestimmte positiv wirkende Botenstoffe werden nur bei Bewegung produziert und Bewegung ist eine Basistherapie bei Depression – den Organismus und damit auch die Psyche „in Schwung bringen“. Ja, Disziplin würde manchmal helfen: Wenn Betroffenen aus dem Wissen heraus, dass ihnen Bewegung hilft, Spaziergehen, Radfahren oder gar Tanzen. Beim stationären Aufenthalt werden sie, durch ihren Therapieplan, teilweise sanft genötigt, sich aus dem Bett zu erheben und aktiv zu werden.

Allerdings lässt sich beobachten, dass die Wirkung oft nicht nachhaltig ist, also: (natürlich) wird die Depression nicht durch Bewegung geheilt. Vielmehr fallen die Patienten nach kurzer Zeit wieder in den Modus „Sich-hängen-lassen“ zurück, also in die Depression. Denn die Depression selbst ist (psychologisch gesehen) gar nicht das Problem, sondern eine „Lösung“, ein Schutzmechanismus: Sie schützt die Betroffenen davor, sich der Lebenskrise zu stellen. Und wenn man sie darauf anspricht, sagen sie: „Ich muss erst meine Depression überwinden …“

Aber so wird das nichts. Die Depression besser in den Griff bekommen, bedeutet: mit Herausforderungen anders umgehen. Wären (oder werden) die Betroffenen weniger depressiv, würden sie mehr unter Ängsten leiden – unter den Gefühlen, die mit der Lebenskrise bei wacher Wahrnehmung verbunden sind. Insofern stellt sich die Frage: Darf es überhaupt besser werden mit der Depression? Oder doch „lieber“ weiter ganz, ganz müde sein oder gleich auch am Tage „die Augen schließen“ und die Decke über den Kopf ziehen?

Dummerweise führt die Ignoranz gegenüber dem natürlich Schlaf-Wach-Rhythmus, d.h. das Nachgeben gegenüber der Müdigkeit am Tag dazu, dass die Betroffenen nachts nicht schlafen können und manchmal dann besonders von Ängsten heimgesucht werden (wozu auch der nachtspezifische „Mangel“ an bestimmten Hormonen und Botenstoffen beiträgt). So sind Depressionen am Tag und Ängste in der Nacht nicht selten kombiniert. Was hilft? Psychotherapie und doch „Konfrontation“, also mit Unterstützung des Therapeuten und, soweit vorhanden, der Therapiegruppe auf die Lebenskrise schauen.

Es gibt gerade in der Gruppenpsychotherapie einen weiteren wichtigen Aspekt oder Faktor von wiederholt auftretender „spontaner“ Müdigkeit in der Therapie (d.h. die Patienten sind außerhalb der Gruppentherapie oft quietschfidel und aktiv, aber hängen in der Therapiestunde todmüde und erschöpft herum). Dieses Phänomen hängt manchmal mit der Therapiephase zusammen: Patienten mit wenig Therapieerfahrung, die ihre eigenen Themen noch nicht offengelegt und mit der Gruppe geteilt haben, empfinden die Gruppensitzungen oft als sehr anstrengend und sind gewissermaßen schon im Voraus müde, weil sie es so schwer aushalten – die Themen der anderen. Es ist auch schwer und bindet viel Energie, die eigenen Probleme, die z.T. noch Geheimnisse sind, aus- und zurückzuhalten. Auch hier ist die Müdigkeit ein Schutzmechanismus (z.B. vor der Angst, vom Strom der Gefühle mitgerissen zu werden und die Kontrolle zu verlieren), allerdings auf Dauer kein besonders hilfreicher. Dies hat auch mit der mangelnden Abgrenzungsfähigkeit zu tun: Die „Neulinge“ können noch nicht gut genug wahrnehmen, dass die Geschichte, die gerade bearbeitet wird, zu einem anderen Patienten gehört und bei diesem gelassen werden kann. Später, wenn dies besser klappt und auch an eigenen Themen mit der Gruppe bereits gearbeitet wurde, sind die Patienten oft viel wacher und neugieriger auf die Stunde.

Aber auch therapieerfahrene Patienten werden „therapiemüde“, entweder akut, d.h. sie fühlen sich durch die aufwühlenden Arbeiten der Woche wie „durchgenudelt“ – daher sind die Auszeiten so wichtig, wofür der Spruch gilt „Keine Therapie nach der Therapie!“. Es kann aber auch einfach nach Wochen eines stationären Aufenthalts sein, dass nichts mehr geht: weil vorerst keine weiteren Fortschritte „unter der Käseglocke“ (Klinik) möglich sind und die Therapiestunden sich nach „absitzen und aushalten“ anfühlen, weil sich alles irgendwie wiederholt, ständig kommen neue Mitpatienten und alles beginnt von vorne. Daher sind längere stationäre Aufenthalte in vielen Fällen gar nicht besonders sinnvoll, vielmehr gilt es dann, nach Hause zu gehen und sich den Lebensherausforderungen und den damit verbunden Ängsten zu stellen – und sich die nötige Unterstützung beschaffen, u.a. durch regelmäßige ambulante Therapie.

Therapeuten sind ebenfalls manchmal „psychosomatisch“ müde … Wenn die Erholungsphasen zu kurz waren und vielleicht auch andere stützende Faktoren fehlen, etwa der Wegfall von Supervision und Teamsitzungen, in denen die Themen, die den Therapeuten belasten, angesprochen werden. So verstärkt sich die Sorge, nicht mehr zu können oder zu wollen, Fehler zu machen, nicht gut genug zu sein – und das Gefühl, dass sich eben alles wiederholt. Ein Therapeutenjob muss jedoch keinesfalls per se ermüdend sein: Wenn alles gut läuft, gehe ich abends nicht mit weniger Energie aus der Klinik als ich morgens gekommen bin.

Auch ich komme also immer mal wieder an einen Punkt, wo ich keine Lust auf gar nichts mehr habe – und mich „wie ein Patient“ an meinen Notfallzettel erinnern muss, an das, was mir meistens hilft mich aufzurichten, und mich dann auch ein bisschen dazu anschubsen, um nicht zu sagen: zu „zwingen“. Ich habe im Vergleich zu den Klienten mehr als einen Vorteil, ein ganz fetter Vorteil ist: dass ich es schon tausendmal erklärt und eingeimpft habe, wie Selbsthilfe funktioniert. Sich selbst zum Glück zwingen? Na ja, Disziplin wäre tatsächlich mal ein gutes Thema für einen Blog, kann aber auch irreführend sein („ich muss es alleine schaffen“). Manchmal ist Mut noch wichtiger – in Kontakt zu anderen zu gehen.