P wie Phytamine

Oder: Schüsse aus der zweiten Reihe

Warum heißen sekundäre Pflanzenstoffe „sekundär“? Vereinfacht gesagt, lautet die Antwort: weil man sie lange nicht so wichtig nahm (oder gar für schädlich hielt), sie standen wirklich in der „zweiten“ Reihe. Heute könnte man mit etwas Fußballwissen sagen: Die Schüsse aus der zweiten Reihe können besonders erfolgreich sein, sie sind jedenfalls oft überraschend. Die sekundären Pflanzenstoffe sind vermutlich ein Hauptfaktor dafür, dass eine gesunde Küche die Apotheke ersetzt – also nicht unbedingt nur die Wild- und Heilkräuter, die dort für Tees und als Gewürze zum Einsatz kommen.

Vor etwa 30 Jahren haben der Ernährungswissenschaftler Prof. Claus Leitzmann und Kolleg*innen die sekundären Pflanzenstoffe neu und ganz anders entdeckt und sie der Öffentlichkeit vorgestellt. Seither werden sie von vielen Autor*innen „Phytamine“ oder ähnlich respektvoll genannt. Sie sind so etwas wie der Schlüssel, um die medizinische Wirkung von Gemüse und Obst naturwissenschaftlich zu verstehen, von der Natur für die Pflanze selbst entwickelt: zum Schutz, fürs Wachstum und für die Vermehrung bzw. Verbreitung. Abwehrstoffe, Wachstumsstoffe, Aromen und Farben als Lockstoffe – biochemikalisch heißen sie heute Carotinoide, Flavonoide, Glukosinolate, Phytosterine, Saponine, Phenolsäuren, Phytoöstrogene, Sulfide, Terpene usw. Die meisten dieser Stoffe verfügen über gleich mehrere Wirkungen, die der Mensch sich zunutze machen kann. Sie wirken z.B. antibiotisch, antioxidativ (verzögern die Zellalterung), entzündungshemmend und immunstimulierend (bis hin zu krebsvorbeugend).

Neben den Vitaminen sind also auch die Phytamine dafür verantwortlich, dass eine vegetarisch betonte Kost mit viel Gemüse und (je nach Verträglichkeit) auch Obst gesünder ist als gutbürgerliche Küche oder Fast Food. Nun könnten wir hier, und es würde gut zur Jahreszeit und der empfohlenen saisonalen Ernährung passen, ein Loblied auf Kohlgewächse singen. Tatsächlich enthalten Grünkohl, Weißkohl, Wirsing und Brokkoli eine Fülle an sekundären Pflanzenstoffen, was u.a. dazu geführt hat, dass Brokkoli zwischenzeitlich schon in Tablettenform gehandelt wurde und Grünkohlpulver als das Superfood in Smoothies gilt. Da aber viele Verbraucher leider keinen Zugang mehr zu diesen gesunden Lebensmitteln haben und wir hier „die Kirche nicht leer predigen wollen“, stellen wir ihnen drei andere jahreszeitliche Früchte vor, die sie vielleicht selbst beim Gang durch die Natur entdecken und ernten können: Hagebutte, Marone und Quitte.

Hagebutte: Die Hagebutte kennen die meisten nur als Tee, ob das ein Geschmackserlebnis ist, da gehen die Meinungen auseinander. Er wirkt leicht abführend, fiebersenkend und harntreibend, manchmal wird er auch wegen des Vitamin C-Gehalts für Erkältungen empfohlen. Hagebuttenmus ist für manche einige Delikatesse, und wenige bereiten ihn heute noch selbst zu. Erst in den letzten 20 Jahren sind die schmerz- und entzündungshemmenden Eigenschaften der Hagebutte mehr untersucht worden. Neben Vitamin C, A, B1 und B2 enthält sie auch Farb- und Gerbstoffe sowie weitere sekundäre Pflanzenstoffe, die nicht nur gut fürs Immunsystem und den Schutz der Schleimhäute sind, sondern auch eine entzündungshemmende oder gar regenerierende Wirkung auf Gelenke bzw. Knorpel haben können. Was im Pferdefutter eine hilfreiche Ergänzung ist, könnte doch auch für uns gut genug sein 🙂

Esskastanie: Maronen enthalten Gerbstoffe wie Tannin, die keim- und entzündungshemmend wirken und möglicherweise auch eine krebsvorbeugende Wirkung haben, aber auch „Phytohormone“ wie Lignane, die u.a. zur Hautgesundheit beitragen, sowie Antioxidantien. Hildegard von Bingen empfahl die Esskastanie als allgemeines ein Stärkungsmittel, z.B. in der Rekonvaleszenz (Erholungsphase), außerdem gegen Gicht und Kopfschmerzen. In der Hildegard-Küche ist die Marone zentral – neben Dinkel und Fenchel das dritte Lebensmittel, das heilkundige Äbtissin uneingeschränkt empfahl. Mit dem nussigen Geschmack von Maronenmehl lassen sich zahlreiche Speisen geschmacklich aufwerten, einfach einen kleinen Teil des üblicherweise verwendeten Weizen- oder Stärkemehls durch Kastanienmehl ersetzen.

Quitte: Wegen ihres Gehalts an Pektin wird die Quitte traditionell bei Magen- und Darmbeschwerden zur Beruhigung eingesetzt. Quitten enthalten nicht nur Vitamin C und zahlreiche Mineralstoffe wie Kalium und Zink, sondern auch das Spurenelement Mangan und den sekundären Pflanzenstoff Quercetin. Beide finden sich heute in einigen hochgelobten bzw. angepriesenen Nahrungsergänzungsmitteln – dabei wird beiden Stoffen manchmal fast zu viel angedichtet, denn letztlich wirken nicht einzelne Stoffe, sondern Gesundheit ist, nochmal im Fußballjargon, das Werk der ganzen Mannschaft. Nicht zuletzt würde ich hier auch die „psychische“ Wirkung erwähnen wollen, denn Geschmackserlebnisse haben, nicht nur wegen eventuell nostalgischer Effekte (schmeckt wie Gelee von Oma) eine zweifellos heilsame Wirkung.

Unsere Vorfahren haben sich vermutlich nicht so viele Gedanken gemacht und konnten das mit den sekundären Pflanzenstoffen nicht wissen. Ich frage mich, ob sie bzw. zumindest die damals Heilkundigen auf eine andere Weise nicht mehr wussten: Wie die Früchte der Natur wirken und eingesetzt werden sollten. Sei’s drum, es ist schön, wenn wir mit der Naturwissenschaft auch altes Naturwissen neu entdecken und begründen. Viel Spaß beim Entdecken von neuem Wissen und alten Rezepten sowie Freude in der Apotheke, die Küche heißt.