D wie Düster (Dysthymie)

(Es handelt sich im Folgenden um eine Fortführung jener Gedanken unter dem Stichwort Optimismus.)

Es gibt eine Schnittmenge zwischen Depression und Pessimismus – während dieser für die schlechte Prognose des persönlichen Lebens oder der Welt steht, bezeichnet Depression anscheinend die Gefühle und Verhaltensweisen von Menschen, die ständig mit solchen „Prognosen“ leben. Oder kennen Sie fröhliche und lebensfreudige Pessimisten? Ich meine nicht Zyniker!

Patienten stellen uns manchmal schlaue Fragen, also solche, die scheinbar unbeabsichtigt von der therapeutischen Arbeit ablenken: „Ist denn Pessimismus nicht die angemessene Haltung gegenüber dem Leben und der Welt? Schauen Sie sich doch mal um, Herr Wagner!“ Glücklicherweise habe ich mir diese Frage auch schon oft gestellt, so dass Sie mich nicht sofort in die Irre oder freudige Zustimmung führt. Eigentlich handelt es sich ja um eine rhetorische Frage, also eine Behauptung („Die Welt ist schlecht und dem Untergang geweiht“), die nur noch auf Bestätigung wartet. Tatsächlich kann niemand diese Behauptung widerlegen, aber es kann sie auch niemand belegen.

Damit verbunden ist oft eine andere, ebenfalls rhetorische Frage: „Muss man denn das gleich pathologisieren, also der miesen Laune und dem Pessimismus einen Krankheitsnamen geben und sie als Krankheit erklären?“ Nein, natürlich muss man das nicht. Aber wenn Sie diese Frage im Rahmen einer Psychotherapie stellen, gehe ich davon aus, dass auch Sie kein fröhlicher Pessimist sind, sondern leiden! Sie sind in diesem Sinn, so problematisch der Begriff ist, krank. Deshalb reden wir darüber, wie es ihnen geht und wie wir, also Sie, Ihr Leiden reduzieren können. Da hilft uns keine philosophische Klärung, ob Pessimismus die richtige Einstellung ist, genauso wenig wie die (erkenntnis)theoretische Klärung der Frage nach dem Sinn des Lebens: Gibt es ihn oder nicht? Überspitzt gesagt: Das ist unwichtig für die Therapie. Wichtig ist dagegen: Wie viel und vielleicht auch warum Sie das so stark beschäftigt.

Wie viele miese Stunden oder Tage pro Woche oder Jahr darf oder muss also ein Mensch erleben, um reif für eine Diagnose „Depression“ zu sein? Glaubt man Pharmakritikern, werden in keinem Fachbereich so exzessiv Krankheiten entdeckt bzw. erfunden, definiert und, welch Zufall, passgenau bestimmten Psychopharmaka zugeordnet wie im Bereich psychischer Erkrankungen. Heute reicht es schon, wenn depressive Symptome zwei Wochen andauern, um eine Depression diagnostiziert zu bekommen (vor Jahrzehnten war es ein halbes Jahr). Kein Wunder, dass viele Betroffene lieber nicht darüber reden, da sie nicht abgestempelt, also diagnostiziert werden wollen.

Mit „richtig“ depressiven Menschen möchten viele Zeitgenossen aus unterschiedlichen Gründen nicht in eine Schublade geraten, manche auch aus falscher Bescheidenheit („anderen geht es doch viel schlechter“). Das wusste auch Robert L. Spitzer: Den Begriff „depressive Persönlichkeit“ fand der US-amerikanische Psychiater, der Ende des 20. Jahrhunderts großen Anteil an der Definition und Unterscheidung von Diagnosen hatte, übertrieben und nannte daher die regelmäßige bis dauerhafte leichte Verstimmung „Dysthymie“, was man als „Missmut“ übersetzen könnte – Mut hier nicht im Sinne von Furchtlosigkeit, sondern Gemüt.

Es gab verschiedene Versuche, diese Verstimmung als moderne Form der Melancholie darzustellen, sicher bestehen da Schnittmengen, allerdings führt die traditionelle Lehre von den vier Charaktertypen (Choleriker, Melancholiker Sanguiniker und Phlegmatiker), psychotherapeutisch gesehen, eher auf Abwege. Vor allem unterstelle ich den meisten dieser Versuche, dieses Leiden als halbsowild oder irgendwie sogar wohliges Gefühl umzudeuten. Ich selbst kann für mich als Betroffener nichts Wohliges daran finden – und wenn ich Patienten mit der Problematik habe, versuche ich auch nicht, es als etwas Wohliges umzudeuten. Wer von Depression nicht reden will, sollte von Melancholie schweigen.

(Am Rande sei mir als langjährigem Naturheilkundler der Hinweis gestattet, dass es noch eine andere Variante der Umdeutung von Depression zur Melancholie gibt: die ganzheitsmedizinische, die meint, man könnte mit pflanzlichen oder homöopathischen Mitteln dem Leiden zu Leibe rücken. Ich bin da äußerst skeptisch, vor allem wenn dies der Vermeidung von psychologischer Krankheitseinsicht dient!)

Beruht die Dysthymie auf einer Veranlagung? Wenn ich mir das Leid im Leben meiner Großeltern und Eltern ansehe – Verlust von Kindern, Bankrott, Demütigung – wenn ich über die Diktatur, totalen Krieg und das Elend der verwüsteten Städte nachdenke, über den Hunger und Mangel in der Nachkriegszeit und noch anderes mehr, die irgendwie notwendigerweise (?) praktizierte Gefühllosigkeit, dann brauche ich keine (genetische) Veranlagung als Erklärung für ihre und meine wiederkehrende Verstimmung. Ich brauche eher eine Erklärung, wie es ihnen gelang, trotz allem nicht ständig Durchhänger zu haben und warum so viele Nachkommen halbwegs lebenstauglich geworden sind und viele geradezu lebensfroh wirken.

Eine Arznei der Nachkriegsgenerationen kennen wir: Schaffen, schaffen und nochmals schaffen! Da finde ich mich wieder. Damit wären wir bei einem bedeutenden Auslöser für Missmut: Ruhe. In der Ruhe spürt man die innere Unruhe, die existentielle Unzufriedenheit, ahnt, dass etwas nicht stimmt – denn das jeweils Erreichte ist ja nie genug – und ist verstimmt. Wenden wir dann den Blick nach draußen, werden wir bestätigt: Da stimmt doch ganz vieles nicht in der Welt. Lockdowns, antidemokratische Coronaregimes, Krieg, Inflation, Klimakrise … Was noch nicht Dystopie ist, droht es bald zu werden.

Dystopie? Das Gegenteil der Utopie: ein düsteres Szenario, so etwas wie der Weltuntergang auf Raten. Die Menschheit schafft sich selbst ab. Einerseits setzt sie alles daran, künstlich-intelligente Nachfolgewesen zu schaffen, die von unseren nützlichen Helfern zu Herrschern mutieren. Gleichzeitig werden Menschen durch immer „intelligentere“ medizinisch-technologische Eingriffe und integrierte Hilfsorgane selbst so verändert, dass irgendwann, in vermutlich nicht ganz so ferner Zeit, der Homo sapiens der Vergangenheit angehören wird. Je mehr von Freiheit und Selbstbestimmung geredet wird, umso schneller verschwinden diese. In dieser Weltanschauung könnte ich manchmal baden. Vor rund 100 Jahren hat A. Huxley diese Zukunft prophezeit: Zu sagen, was man denkt, fühlt, braucht und sich wünscht, wenn es von dem abweicht, was die Mehrheitsgesellschaft als wissenschaftlich wahr und moralisch für geboten hält, das erzeugt massive Angst vor Scham – nackt dazustehen unter all den Angezogenen, also Angepassten. Für Rückständige ist kein Platz mehr, Pessimismus ist ein Tabu in diesem Universum der „Rationalität“ und des „Fortschritts“.

Mit einer etwas anderen Brille zeigt sich, dass es zwar immer genug Schlimmes und Schlechtes in der Welt gab, gibt und geben wird, um sich entsetzt und enttäuscht von ihr abzuwenden. Genauso gab und gibt es jedoch immer genug Gutes oder sogar Göttliches, um das Leben zu lieben. Wenn wir uns dauerhaft auf die eine Seite schlagen, sind wir wahrscheinlich grundlegend verstimmt. Viele Betroffenen bewerten ihre latente oder mäßige Düsterkeit allerdings nicht als krankhaft, das liegt wohl daran, dass sie sich an diesen Dauerzustand oder die wellenartige Wiederkehr gewöhnt haben. Im sozialen Miteinander kann dies ein Problem werden, wenn die Betroffenen zwar stabil genug sind, um irgendwie zu funktionieren, aber doch ständig leidend wirken, d.h. andere als „Depris“ oder Schwarzmaler abschrecken.

Was tun bei dauerhafter oder wiederkehrender leichter Düsterkeit? Ich würde keine Medikamente dagegen akzeptieren, wohl aber Therapie machen, da ich Therapie nicht als Strafe, sondern als Geschenk, mich zu entdecken und weiterzuentwickeln betrachte. Man muss es sich wert sein, auch dann Therapie in Anspruch zu nehmen, wenn man nicht total durchhängt, nicht akut suizidal oder schwer depressiv ist und die eigene Fahne nicht schon umgeknickt ist, sondern „nur“ auf Halbmast weht. Gleichzeitig hilft es, praktische oder pragmatisch nützliche Erkenntnisse zu sammeln, herausfinden, wie wir den „Regler“ verschieben, wie der Verstimmung entgegenwirken können – und dies dann auch tun: aktiv werden, duschen, den Kreislauf in Schwung bringen, mit andern reden und gemeinsam aktiv werden (z.B. singen oder spielen), Sport treiben (ich liebe Rückenschwimmen im Freibad), mit dem Hund toben, etwas Gutes lesen (ich kann nicht genug Bücher um mich herum haben, die in gewisser Weise auch eine Apotheke sind), Tagebuch schreiben, backen, Marmelade kochen, malen und mailen.