U wie Uffenheim(at)

Wenn ich durch meine Teilzeitwahlheimat über Zuckerrübenfelder zur Arbeit fahre, erfreue ich mich an vielen Greifvögeln am Wegrand und in der Luft. Und ich bewundere einzelne Bäume sowie freistehende Baumgruppen, so viele gibt es nicht in dieser agrarisch geprägten Landschaft, die an guten Tagen als Prärie, an anderen eher als Steppe daherkommen kann. Es ist wie die Fahrt durch ein Stillleben. Während ich versuche, die Gegend in ihrer Eigenart zu erfassen (und mich gleichzeitig auf die Straße konzentrieren muss), geht mir ab und zu das Thema Heimat durch den Kopf.

Mit einer Mischung aus Ver- und Bewunderung habe ich immer wieder Menschen beobachtet, die in ihrem Geburtsort leben, vielleicht sogar im gleichen Haus. Das scheint ein wesentlicher Aspekt von echter Heimat zu sein: Das Dasein hat etwas scheinbar ganz Selbstverständliches, nie wirklich in Frage Gestelltes. Demgegenüber bezieht sich die Sehnsucht des Wanderers oder eben Wanderarbeiters nach Heimat meist auf einen Traum oder auf eine Utopie, einen Ort, den es zumindest „so“ gar nicht (mehr) gibt und wahrscheinlich nie gegeben hat.

Die Sehnsucht nach Heimkehr bezieht sich auf einen Ort der Vergangenheit, auf eine Geborgenheit, die Hölderlin den „holden Ufern“ und „Wäldern der Kindheit“ zuschreibt. Mich zieht, um das klarzustellen, nichts zu den Wäldern der Kindheit. Psychologisch gesehen, lässt sich das leicht selbstverliebte Kreisen um die idealisierte Heimat als eine Art unbewussten Umgang mit dem inneren Kind verstehen – bis die Erkenntnis reift, dass zum Erwachsenwerden wesentlich gehört, seine Identität nicht, zumindest nicht allein in der Vergangenheit zu gründen. Der Psychoanalytiker Rainer Gross beschreibt in „Heimat: Gemischte Gefühle“ (Göttingen 2019), wie auf dem Weg einer verqueren Identitätssuche in verlorenen Paradiesen und verklärten Utopien überall Fallgruben lauern, für die der nationalistische und rechtsextreme Heimatkult besonders prominente Beispiele abgeben.

Sicher macht es einen Unterschied, ob man vertrieben wurde oder kraft eigener Entscheidung gegangen ist. „Wo ich meinen Hut hinhäng, da ist mein Zuhause …“, singt Udo Lindenberg. Hierbei geht es vordergründig um die mangelnde Bereitschaft, sich in Partnerschaft zu binden, und dafür auf humorvolle Weise um Verständnis zu bitten. Dass jedoch die zugrundeliegende Bindungsresistenz noch etwas weiter reicht bei einem wie ihm, der seit einer gefühlten Ewigkeit im Hotel lebt, dafür gibt es in anderen Songs reichlich Anhaltspunkte: „…und dann fand ich schnell heraus: die beste Straße unserer Stadt, die führt aus ihr hinaus!“ Zurück nochmal zum Hamburger Hut-Song, wo Udo auf kuriose oder widersinnige Weise die starken und gewissermaßen konträren oder komplementären Symboliken von Greifvögeln und Bäumen kreuzt: „Ich bin ein flatterhafter Lindenbaum, ich komme und gehe wie ein süßer Traum.“ Wie bitte, ein flatterhafter Lindenbaum? Die Linde steht doch (unter anderem) für Verwurzelung, Treue und Heimat. Und solch eine Vorlage müsste ich wiederum eigentlich annehmen, um über die Linde von Hopferstadt zu schreiben – aber ein paar persönliche Dinge sollen doch (fast) geheim bleiben … Hat Heimat auch etwas mit geHEIM zu tun?

Heimatkult jedenfalls, als Kuriosität zu bestaunen bei Ausgewanderten, verweist auf Verlusterfahrungen oder bei Hiergebliebenen auf Verlustängste. In der pseudo-natürlichen, weil letztlich kulturell entschiedenen Bindung an Heimat steckt (an-)gebunden sein. Obwohl es ein Kurzschluss oder gar logischer Fehlschluss ist, echte Heimatverbundenheit per se als Unfreiheit und dagegen das Weggehen als Akt der Freiheit zu verstehen. Man muss eben den „Einzelfall“ sehen, also meinen. In meiner ambivalenten Haltung zur Heimat steht die ewige Nest-Bindung für Verbindlichkeit, Loyalität, Verpflichtung, soziale Kontrolle durch das nächste Umfeld und damit auch für eigene Engegefühle und Unfreiheit. So wie bekanntlich jede Form von „Heim“ je nach Kontext auch Extremformen von Ausgeliefert- und Eingesperrtsein beinhalten kann. Ein Vogel, der im Prozess des Wachstums sein Nest unwiderruflich verlässt, weiß wohl nichts von Freiheit, einer dagegen, der einem Käfig und damit einer bestimmten Form der „Zivilisation“ entkommen konnte, hat möglicherweise eine dunkle Ahnung davon.

Es fällt schwer von solchen musikalischen Höhen wieder hinabzugleiten oder aus tiefen philosophischen Wurzelgründen aufzusteigen. Mein Thema war doch eigentlich eine „Heimat auf Zeit“, ein Widerspruch in sich selbst? Oft finde ich jedoch gerade die Mischung aus Vertrautem und Fremden in verschiedenen Landschaften und Mentalitäten so attraktiv, dass ich einen Ort oder eine Gegend als Wahlheimat bezeichne und damit schon etwas mehr meine als nur pragmatisch den gegenwärtigen (Zweit-)Wohnsitz. Vielleicht liegt es daran, dass ich, wo ich eigentlich fremd bin, toleranter sein kann als im scheinbar Altvertrauten. Wahlheimat, ein Prädikat liebevoller Verbundenheit, das zweifellos nicht von aller Ewigkeit her und bis in alle Ewigkeit reichen kann. Für mich jedoch reicht es. Besonders mag ich auch den Moment des Ankommens in „Uffi“ (Einheimische sagen wohl eher „Uffni“) aus Richtung Nordwest, wenn die Morgensonne zwischen den Türmen von Marien- und Stadtkirche auf die B13 scheint – als wäre hier Erleuchtung garantiert.

PS. Der Anblick aus der entgegengesetzten Richtung, wenn man von Custenlohr über leichte Hügel auf Uffenheim zufährt, ist mindestens genauso reizvoll, bevorzugt in der Abendsonne …