S wie Seelsorge

Jede echte Lebenskrise hat spirituelle Aspekte und Dimensionen: Wer bin ich? Was ist der Sinn der Krise? Worin besteht mein Lebenssinn? Manchmal können sich aus dem Einüben einer spirituellen Haltung oder aus spirituellen Erfahrungen (der Entrücktheit, der Verbundenheit, des All-eins-sein) wesentliche Impulse zur Heilung ergeben. Die Ergänzung der Psychotherapie um spirituelle Angebote und philosophische Weisheiten erweist sich bei vielen Patienten als hilfreich – manchmal wird dies als transpersonale Psychologie bezeichnet, obwohl man darunter auch noch viel mehr verstehen kann. Aber „dürfen“ wir das so einfach: spirituell „angehauchte“ Seelsorge betreiben? Wen könnten wir um Erlaubnis fragen? Auf der einen Seite die klassische Seelsorge, also Vertreter der Religionen, auf der anderen Seite die akademische Psychologie.

Mir scheint, der Seelsorger (die Seelsorgerin) und der Psychotherapeut (die Psychotherapeutin) „begegnen sich“ dort, wo sie beide in gewisser Weise untypisch für ihr Metier arbeiten: Der Pfarrer betreibt Seelsorge, wenn er sich gerade nicht primär um das jenseitige Seelenheil kümmert, sondern um Linderung und Beistand für die im Diesseits geplagte Seele, selbst wenn er dabei auf die Unterstützung Gottes verweist oder zurückgreift. Wenn der Psychotherapeut so etwas wie „Seelsorge“ versucht, geht es ihm nicht (nur) um Mitgefühl mit der geplagten Psyche des Klienten und erst recht nicht um alltagspragmatische Hilfestellungen, sondern gerade in den besonders verzweifelten und perspektivlosen Momenten um das Bewusstsein für die „göttliche“ Seele und dem Anteil in uns, der immer heil bleibt, um das Bemühen, auf dieser Ebene in Kontakt zu kommen – oder auch die Anregung, der Klient möge mit diesem Anteil in Kontakt kommen.

Die Leistungen, die heute die Psychotherapie erbringt, waren früher Gegenstand der religiösen Seelsorge. Stimmt diese These? Einerseits, andererseits. Es handelt sich wohl um einen Anachronismus: Da wird ein modernes Konstrukt von Helfen der Geschichte übergestülpt. Wie immer erscheint alles bei genauerer Betrachtung viel komplexer. Reizvoll ist jedoch die Umkehrung der These: Die moderne Psychotherapie beinhaltet Aspekte der traditionellen Seelsorge, von der zuversichtlichen Ausstrahlung bis hin zum „Segen“ für Leben und Handeln des Klienten. Oha! So möchten das sicher viele Therapeut*innen auch nicht verstanden wissen (tatsächlich könnte man sich fragen, wie es denn dabei um die vielgerühmte Augenhöhe bestellt ist) – und viele Seelsorger*innen würden es ebenso wenig gelten lassen.

Begleitung, Beistand und Beratung auf einer Basis von Einfühlung und Menschenliebe, insbesondere in Lebenskrisen. Ist das nun die Umschreibung von Seelsorge oder von Psychotherapie?  Bei Seelsorge käme noch der Glaube und der Bezug zu Gott hinzu. Aber auch in der Psychotherapie können philosophische bis spirituelle Dimensionen und Angebote hinzutreten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es die buddhistische „Psychotherapie“ nur in Anführungszeichen gibt, weil die „Seele“ als Geist verstanden wird, dessen Verwirrungen durch im weitesten Sinne meditative Praktiken zu behandeln sind. Die Ergebnisse einer solchen meditativen Praxis lassen sich aber psychologisch beschreiben.

Die Begriffe Seele und Sorge sind so vieldeutig, dass im Grunde jede*r in „Seelsorge“ hineinlesen könnte, was er oder sie wollte. Andererseits kann man die geschichtliche, also primär kirchliche Prägung des Begriffs auch nicht einfach ignorieren. Vor diesem Hintergrund könnte es möglicherweise als Anmaßung verstanden werden, wenn wir uns im Job als psychologischer Berater zum „Seelsorger“ aufschwinge. De facto fließt jedoch in unsere Arbeit so viel an Philosophie ein, dass ich die Anmaßung in gewisser Weise für zulässig halte, solange ich mir einer Grenze bewusst bin: Wenn ein Klient wirklich „Seelsorge“ im traditionellen Sinne mit Gottesbezug sucht oder benötigt, sollte ich nicht so tun, als könnte ich das liefern. Umgekehrt wird ein vernünftiger Seelsorger auch seine Grenzen bei ihm anvertrauten Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen achten.

Der akademischen Psychologie ist die „transpersonale“ Erweiterung der Psychotherapie verständlicherweise suspekt. Das hat zunächst mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild und Wissenschaftsverständnis zu tun. Die Seele erscheint den meisten von uns im Alltag als etwas weitgehend Immaterielles, gleichwohl sie mit materiellen oder physiologischen Vorgängen verbunden ist. In der Psychologie ist es irgendwie umgekehrt: Auf dem Primat des Materiellen beruht die Entwicklung und Anwendung von Psychopharmaka. Aber gerade dieses der Psychopharmazie zugrundeliegende biomedizinische bzw. rein naturwissenschaftliche Modell von Psyche muss als gescheitert angesehen werden. Die These von den psychospezifischen Wirkungen der Botenstoffe ist heute im Wesentlichen Marketing.

Aber auch die sich um Naturwissenschaftlichkeit bemühende theoretische Psychologie und die damit verbundenen Formen der Psychotherapie tun sich schwer mit ihrem Hauptgegenstand. Sie können den Menschen oder den Patienten per se nicht ganzheitlich erfassen, die spirituelle Dimension bleibt unberücksichtigt oder zumindest vernachlässigt (oft allerdings ebenso jene körperlichen Dimensionen, die nichts oder wenig mit Botenstoffen, aber viel mit Leiblichkeit zu tun haben).

Letztlich besteht die praktische Psychotherapie eben nur zu einem unbestimmt großen oder kleinen Anteil aus wissenschaftlich fundiertem Handeln und zu einem anderen Teil aus menschlicher Begegnung. Ich halte es für legitim, dabei ein erweitertes Verständnis von Seele und Seelsorge zugrunde zu legen oder mit einfließen zu lassen – im Bewusstsein, dass damit viele Spekulationen verbunden sind, für die niemand Gewähr geben kann. Diesbezüglich scheint uns der Pfarrer (die Pfarrerin) gewissermaßen voraus, der manchmal bei den jenseitigen Bezügen aus einer Gewissheit heraus sprechen kann. Aber es gibt auch Pfarrer*innen die darauf sagen: „Es scheint halt so …“