Für eine mittlerweile große Gruppe von Vegetariern gilt nur die maximale Variante als (echter) Vegetarismus, denn sie haben sich aus ethischen Gründen entschieden: Alle (!) Produkte, die mit der Ausbeutung, Folter oder Unterdrückung von Tieren zu tun haben, werden gemieden. Für viele Nicht-Vegetarier stellt sich, auch bei prinzipieller Zustimmung zu ethischen Argumenten, die Frage: „Geht das denn, sich vegan und gesund zu ernähren? Ist das nicht gefährlich?“
Nein, im Gegenteil, viele Veganer zeigen z. B. in puncto Blutdruck, Blutfette oder Körpergewicht bessere Gesundheitsdaten als die Mehrheit der Normalbevölkerung. Das Risiko, Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, ist bei ihnen geringer. Allerdings ist vegane Ernährung nicht automatisch gesünder: Mit Weißbrot, Süßigkeiten und industriellen Fertigprodukten kann sich niemand gesund ernähren, selbst wenn die Kost vegan ist. Und die lebenslange Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM), die in der Regel ebenfalls hochindustriell hergestellt werden, scheint mir auch nicht attraktiv.
Der problematischste Nährstoff für Veganer ist Vitamin B12. Er wird von Mikroorganismen produziert und kommt nennenswert nur in tierischen Produkten vor. Zwar braucht der Mensch nur sehr wenig Vitamin B12, außerdem kann die menschliche Leber das Vitamin gut speichern – und das Verdauungssystem kann es „recyclen“. Insofern wurden diesbezüglich früher auch übertriebene Ängste geschürt. Dennoch tritt kann nach mehreren Jahren (!) ein gravierender Mangel auftreten, und die Schäden, u. a. am Nervensystem, sind dann irreparabel! Außerdem ist die Blutbildung betroffen. Deshalb empfehlen vegane Vereinigungen, Vitamin B12 in Form von Nahrungsergänzungen (oder in angereicherten Lebensmitteln) zu sich zu nehmen. Am Rande sei erwähnt, dass Veganismus nicht der einzige Grund für B12-Mangel ist, auch Magen-Darm-Erkrankungen, Stoffwechselstörung und die Dauereinnahme bestimmter Medikamente (Schmerzmittel, Magensäureblocker, Diuretika u.a.) können dazu führen.
Für vegan lebende Frauen kann eine Nahrungsergänzung mit Eisen nötig werden. 10 Prozent aller jüngeren Frauen, die über die Monatsblutung Eisen verlieren, sind von Eisenmangel betroffen, doch bei Veganern sind es deutlich mehr, nach Studien bis zu 40 Prozent – solange eben Eisen nicht gezielt zugeführt wird. Zwar ist damit noch nicht automatisch Blutarmut oder Leistungsmangel verbunden. Aber das Risiko wird immer noch häufig übersehen. Daher sollten Veganer den Eisenspiegel im Blick behalten.
Kalzium dagegen ist kein spezifisch veganes Problem! Hierzulande können sich viele Verbraucher aufgrund der allgegenwärtigen Milchpropaganda überhaupt nicht vorstellen, wie man ohne Milchprodukte gesunde Knochen haben kann. Es geht jedoch und ist offenbar nicht so kompliziert, denn überall in der Welt ernähren sich viele Menschen milchfrei – und Osteoporose tritt in den Bevölkerungen ohne Milchkonsum teilweise sogar seltener auf als in den milchgesättigten Gesellschaften. Der Kalziumbedarf kann mit pflanzlichen Quellen prinzipiell gedeckt werden (u. a. durch grünes Blattgemüse, Brokkoli, Fenchel, Sesam, Vollkornbrot, Nüsse). Allerdings, ohne bewusste Ernährung funktioniert es nicht, d.h. kümmern muss man (frau) sich schon.
Vitamin D kommt zwar wie Vitamin B12 überwiegend in tierischen Lebensmitteln vor. Allerdings kann der Mensch das Vitamin selbst herstellen – vorausgesetzt er hält sich genug an der frischen Luft auf: Unter Sonneneinwirkung bildet sich in der Haut Vitamin D. Dass daher im Winter Mangel auftreten kann, ist kein spezielles Problem von Veganern. Deshalb muss in dieser Jahreszeit eventuell ein Präparat eingenommen werden (mehr in meinem Beitrag zu Vitamin D).
Und wie sieht es nun „unterm Strich“ aus? Die vegane Kost kann therapeutische und prophylaktische Effekte haben, z. B. in Bezug auf Allergien, Neurodermitis, Heuschnupfen, Rheuma, Bluthochdruck, Arteriosklerose bzw. koronare Herzerkrankungen. Daher empfehle ich diese Ernährungsweise vielen Patient(inn)en für einen überschaubaren Zeitraum. Aus rein medizinischer Perspektive gibt es keine Gründe, Patienten für dauerhaften Veganismus zu überzeugen, allerdings erscheint mir der regelmäßige Verzehr größerer Mengen an Milchprodukten gesundheitlich bedenklich.
Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema* bin ich der Auffassung, dass eine pesco-vegane Diät, also Veganismus plus regelmäßiger Fischverzehr, eine sehr gute Basis darstellt. Wer Fischkonsum jedoch aus ethischen oder ökologischen Gründen ablehnt, sollte meines Erachtens u.a. wegen der notwendigen Aufnahme von Omega-3-Fettsäuren z.B. Algen in die Ernährung einbeziehen oder ein entsprechendes Omega-3-reiches NEM einnehmen.
Ob sich vegane Kost als Dauerernährung eignet, hängt im Einzelfall von verschiedenen Faktoren wie Geschlecht (erhöhte Risiken für Frauen), Alter (Kleinkinder, Kinder) bzw. Lebensphase (Schwangerschaft) und Konstitution (z. B. Tendenz zu Untergewicht) ab. Erwachsene können problemlos eine längere Zeit, z. B. für eine Heuschnupfensaison oder auch ein ganzes Jahr, vegan leben. Darüber hinaus scheint es sicherer, die vegane Kost als Basis zu betrachten, von der man auch „Ausflüge“ zulässt. Selbstverständlich kann dies für eine/n ethische/n Veganer*in keine Lösung sein, er oder sie ist daher gut beraten, seinen (ihren) Gesundheitszustand im Detail zu kennen, mit sehr guten Ernährungskenntnissen und Mehraufwand in der Küche für nachhaltige Gesundheit zu sorgen – und im Zweifelsfalle Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen.
*Hinweis: Ich habe selbst rund 10 Jahre vegan gelebt, aber das ist schon wieder 15 Jahre her, seither ernähre ich mich vegetarisch unter regelmäßiger Einbeziehung von Joghurt, Eiern, Käse und Fisch, jeweils in geringen Mengen. In meinem Buch „Makrobiotik“ (im Download-Bereich“Gesundheitsratgeber“ finden Sie ein Kapitel daraus) habe ich sowohl meine persönlichen Erfahrungen als auch die ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem konkreten Ernährungsratgeber zusammengefasst. Gerne berate ich Sie auch persönlich.