H wie Halt

Mein 150.ster Text im therapeutischen „Blöckchen“. Angefangen hat alles damit, dass ich vor acht Jahren als Patient in einer psychosomatischen Klinik im wunderschönen Allgäu war und begann therapeutisches Tagebuch zu führen. In dieser Klinik habe ich auch das Lied kennengelernt, was dann drei Jahre später, als ich meine Website bastelte, zum Namensgeber wurde: Was tut Dir gut?

„Was tut dir gut?“ – das mag noch harmlos oder nett klingen. Aber: „Was gibt Dir Halt?“ Was stoppt Deinen freien Fall, Dein Abrutschten in die Depression?

Aushalten, Durchhalten, Festhalten. Das sind, im Unterschied etwa zu „Balance“, alles nicht sonderlich attraktive Wörter. Dabei muss man die Balance ja auch halten! Wenn wir eine schwer zu balancierende Yoga- oder Qigong-Haltung einnehmen wollen, hilft es überraschend gut, wenn wir mit den Augen einen Punkt im Raum als Haltepunkt fixieren. Dieses Bild finde ich auch im übertragenen Sinn nützlich: Wenn uns die Balance droht abhanden zu kommen, sollten wir unseren Fokus auf Fixpunkte richten bzw. immer wieder darauf lenken.

Grundsätzlich sind Perspektiven und Ziele gute Halte-Optionen: der nächste Urlaub, das nächste Treffen mit (NN), je nachdem auch das nächsterreichbare Ziel oder sogar die nächste Prüfung. Ich habe das Glück, dass ich auch in seelischen Krisen lesen, lernen und schreiben kann; insofern konnte ich mich in Lernpläne stürzen und mich auf Prüfungen wie Abitur, Uni-Klausuren oder HP-Überprüfung vorbereiten.

Die Arbeit als äußerer Rahmen, der uns zwingt, uns um Aspekte unseres „Funktionierens“ zu kümmern, gibt auf verschiedene Weisen Halt: durch soziale Kontakte und durch Aufgaben, im Idealfall als sinnvoll empfundene. Aus diesem Grund ist es oft fatal, wenn psychisch Kranke mit sozialen Rückzugstendenzen sich eine Frühverrentung wünschen, so verständlich das im Einzelfall sein mag (und manchmal auch alternativlos erscheint!).  

Überhaupt neigen manche Menschen dazu, den „Funktionsmodus“ im Alltag schlecht zu reden: „Da habe ich nur funktioniert, nicht wirklich gelebt.“ Darunter kann man sich etwas vorstellen, allerdings ist das Funktionieren oft die Basis unseres Lebens, jedenfalls sollten wir es nicht verteufeln. Es ist ein Segen, wenn man gerade in seelischen Notlagen einen gewissen Funktionsmodus aktivieren kann. Mit „Routine“ verhält es sich ähnlich: sie hat keinen guten Ruf und ist doch essentiell fürs psychische Überleben.

Zum Funktionieren gehören z.B. Körperpflege, Essen, Tagesstruktur und Kleidung. Mir hat immer wieder eine gewissen „Disziplin“ geholfen, noch so ein Gruselwort. Disziplin scheint zunächst einmal ein paradoxes Vorhaben für jemand, der sich gerade hängen lassen und die Decke über die Ohren ziehen möchte. Aber wer es mehrfach erlebt hat, dem scheint es überhaupt nicht abwegig: In schwierigen Zeiten bin ich nicht länger im Bett geblieben, sondern extra früh aufgestanden, habe gekocht oder zuletzt auch Yoga praktiziert, manchmal hilft ein morgendlicher Wohnungsputz, sich zu aktivieren und gleichzeitig ein sinnvolles to do zu erledigen.

Wer innehält, erhält innen Halt. Dieser schöne Sinnspruch wird manchmal als Einladung zur Achtsamkeitspraxis oder Meditation verwendet. Beides sind für mich wichtige Ressourcen, aber eher, um meinem Leben mehr Qualität zu geben, weniger als Haltegriffe in der Not. D.h. mir hilft Meditieren nicht, wenn ich richtig mies drauf bin – wohl aber das Lesen buddhistischer Literatur: So habe ich die Lektüre von „Wenn alles zusammenbricht“ oder „Den Sprung wagen“ von Pema Chödrön als sehr stabilisierend erlebt. 

Lesen gibt mir generell viel Halt, das ist irgendwie so abgespeichert, dass es mir schon etwas besser geht, wenn ich eine Zeitung oder ein Buch in der Hand halte. Was einem Halt gibt, das ist eben recht individuell.

Mir hilft immer wieder mein Tagebuch, ich bezeichne dies manchmal als den wichtigsten und immer verfügbaren „Gesprächspartner“, wenn sonst niemand da ist oder ich bestimmte Stimmungen und Gedanken niemand zumuten möchte. Manchmal kritzel oder „male“ ich auch ins Tagebuch. Sich „kreativ“ ausdrücken kann äußerst haltgebend wirken: malen, tanzen, töpfern oder singen.

Dummerweise fehlt uns oft, wenn wir depressiv, einsam oder verzweifelt sind, der Antrieb dazu und wir müssen uns überlisten: z.B. uns verabreden. Manchmal musste ich für bestimmte Termine als Singleiter singen und Gitarre üben, ohne den Anlass hätte ich es sicher nicht gemacht, und danach ging es mir sensationell viel besser. Oder ich habe mir „künstliche“ Ziele gesetzt: z.B. mein Liedrepertoire auf 20, 25, 50, später 100 Songs zu erweitern, dafür musste ich mir immer wieder welche raushören und einstudieren – und schon hellte sich die Stimmung auf. Auf ähnliche Weise habe ich mir mal ein Kartenset an therapeutischen Interventionen gebastelt (obwohl man sowas auch kaufen kann).

Wenn wir in Gemeinschaft singen, erleben wir den damit verbundenen Stimmungswandel (nicht immer, aber) oft wieder neu als wundervoll. Überhaupt, Gemeinschaft in vielen Varianten, ist so haltgebend. Bloß nicht komplett „ein-igeln“! Gespräche und Umarmungen – ganz pragmatisches „Halten“ – können helfen und wir sollten damit nicht warten, bis wir allein nicht mehr zurechtkommen! Ganz allgemein sind soziale Kontakte, auch mit Tieren, für manche psychisch kranke Menschen noch der einzig verbleibende Halt; und Tiere sorgen für ein Minimum an „Funktionieren“.

Nicht zuletzt, natürlich, sollten wir an professionelle Hilfe denken: Therapie oder kompetente Beratung. Der Zuspruch oder die Vereinbarung mit dem Therapeuten können uns bestärken, tatsächlich etwas von unserem Repertoire an Ressourcen zu aktivieren. Außerhalb der Klinik bietet besonders die ambulante Therapie eine große Haltekapazität: Die regelmäßige Stunde bei der Therapeutin ist wie ein Fixpunkt, der uns hilft durch die Woche zu balancieren. Mir hat schon geholfen, einmal pro Monat einen therapeutischen Termin zu haben; das klappt vermutlich nur gut, wenn man schon einiges an Therapie gemacht hat, wie ein „Refresher“ und wenn man in der Zeit zwischen den Terminen noch andere Halt-gebende Optionen nutzen kann.

Allerdings geht es in der Therapie, vor allem im Rahmen eines Klinikaufenthalts, manchmal darum, sich gerade nicht zu halten, sondern im Gegenteil sich fallen zu lassen. Ich erlebe immer wieder schwer depressive Patient:innen, offiziell haben sie „nur“ eine mittelgradige depressive Episode, die durch das krampfhafte Halten und Nicht-Fallen-Können schwer wird. Natürlich können wir das dabei offenbar fehlende Vertrauen in den Therapieprozess (oder den Therapeuten oder die Gruppe) und ins Leben nicht herbeizaubern. Gruppentherapie hat immerhin den Vorteil, dass diese Patient:innen „am Modell“ von Mitpatienten lernen, dass es geht: Loslassen und so den Halt in der Gemeinschaft oder in der Therapie finden, darauf vertrauen, dass man gehalten und dass es ausgehalten wird, wenn man ganz tief fällt und an den Schmerz und die Ohnmacht gerät.

Es gibt irgendwo und irgendwann immer einen Boden, eine Talsohle vielleicht, aber man stürzt nicht endlos. Und die Angst vor dieser Talsohle ist manchmal schlimmer als die Realität des Bodens und das dort wieder lebendig werdende Bewusstsein, leben zu wollen und zu können. Nochmal mit Andreas Bourani: Es geht vorbei!

Sozusagen: Auferstehung. Oder: Es gibt immer Grund zur Zuversicht.

(Das war mein erster Blog-Text, der schon vor dem Aufbau der Website entstand: in meinem Praktikum in der Rosengarten Heiligenfeld-Klinik 2018. Danke allen, die meinen Weg begleitet, mich geleitet und ermutigt haben!)

PS. Sei nicht so hart zu Dir selbst!