V wie Verwirrung

Etwa ein Drittel unserer therapeutischen Arbeit besteht darin, Verwirrung zu stiften. Diese Überzeugung stammt nicht von mir, sondern von Helm Stierlin, einem Pionier der systemischen Therapie. Interessanterweise soll er öfters sogar zum Ende der Sitzung nochmal ordentlich Verwirrung gestiftet haben, was häufig unserer spontanen Intuition zuwiderläuft, die Stunde „abzurunden“, damit man friedlich auseinandergeht.

Wenn sich etwas ändern soll am Leben des Klienten, dann müssen sich auch seine Sichtweisen ändern. Empathie tut gut und ist wichtig – ich sage manchmal: das sind die anderen zwei Drittel –, doch sie darf nicht dazu führen, dass wir die Sichtweisen, Glaubenssätze, Gedankenmuster usw., die der Klient mitbringt und die Teile seiner Störung sind, weiter bestätigen. Stattdessen rütteln wir auf, schütteln den Klienten „wach“, schockieren ihn mit zum Teil sehr gewagten „Antithesen“; in der Regel wird dabei vorausgesetzt, die empathische Bindung ist bereits vorhanden! Dieser Verwirrung dienen klassische systemische Werkzeuge wie das Reframing oder die paradoxe Intervention.

Beispiel 1 (Reframing): Die Klientin antwortet auf die Frage „Wie geht es Ihnen gerade zwischen 1 (ganz mies) und 10 (wunderbar)?“ zum wiederholten Male mit „minus 2“. Dann könnte eine reframende Intervention lauten: „Wie kommt es, dass es nicht minus 3 oder minus 4 ist – wie haben Sie das geschafft?“ Denn die Klientin hat es ja bis zu mir in die Praxis geschafft, also könnte es durchaus noch schlechter um sie bestellt sein. Das führt natürlich auf den Punkt: Warum will sie nicht wahrnehmen, dass sie etwas kann, dass sie über hilfreiche Ressourcen verfügt?

Beispiel 2 (paradoxe Intervention): Die Klientin, die schon einige Zeit mit ihrer Bulimie in Behandlung ist, seufzt: „Ich muss immer noch zwei- oder dreimal pro Woche kotzen.“ Dann könnte eine paradoxe Intervention lauten: „Okay, dann müssen Sie in der nächsten Woche jeden Tag kotzen! Ich erwarte Bericht, wie es funktionierte.“ Vorsicht, ich sage nicht, dass das ein Standardrezept für „Heilung“ ist! Es geht mal so aus und mal so, letztlich ist es ein Experiment (in dem Fall im klinischen Kontext).

Starke derartige Interventionen eignen sich für besondere Konstellationen des Festgefahrenseins. Das „einfache“ Verwirrung-stiften ist dagegen fast immer hilfreich. Der übliche „Trick“ so zu intervenieren besteht darin, die bloße Antithese zu dem, was der Klient glaubt, zu formulieren. Sagt dieser etwa: „Ich bin ständig in Konflikte verwickelt …“, dann kann es sein, dass ich es mit folgender Antwort versuche: „Es könnte ja sein, dass Sie sehr konfliktscheu sind. Zumindest Ihre inneren Konflikte, die schauen Sie sich nicht gerne an.“ Das betrifft z.B. überangepasste Patienten, die ständig in Konflikte geraten mit Menschen, die sich angeblich nicht hinreichend an allgemeine Normen, Regeln und Erwartungen halten.

Oder stellen wir uns eine solche überangepasste Patientin vor, die partout nicht selbst für ihre Bedürfnisse sorgen kann und immer noch darauf wartet, dass andere von sich aus, Ihre Bedürfnisse erkennen und befriedigen, weil sie sich vielleicht genauso „aufopferungsvoll“ und „sozial“ verhalten wie die Klientin. (Man kann nicht wirklich sozial sein, wenn man nie gelernt hat, für sich selbst zu sorgen, daher sozial in Anführungszeichen.) Heute klagt sie mal wieder darüber, wieviel besser die Welt doch wäre, wenn alle sich nur sozialer verhalten würden. Nun könnte eine therapeutische Antwort in einer massiven Übertreibung bestehen: „Wenn alle sich so sozial wie Sie verhalten, würde die Menschheit bald verhungern und zugrunde gehen …, weil jeder immer auf alles verzichtet und es an andere abtreten will: Nein, nimm Du ruhig das Stück Kuchen! – Nein, Du! – Nein, Du! Und in der U-Bahn würden alle stehen und teilweise umfallen, weil keiner sich traut, einen Sitzplatz zu nehmen.“

Die bekannteste Methode der systemischen Therapie – die Aufstellungsarbeit – wird noch vielfach unterschätzt in ihrem Potenzial, produktive Verwirrung zu stiften. Wie viele Klienten, die bei uns eine Aufstellung anfragen, sehnen sich letztlich danach, dass ihre Sicht auf Familie, Arbeit, Partnerschaft usw. bestätigt wird! Doch selbst wenn diese Sicht zu 100% zutreffend wäre, hätte eine solche „bestätigende“ Aufstellung wenig Sinn, denn dieser besteht darin, dass der Klient nachher etwas an seinem Leben ändert. Und dafür ist Verwirrung oft viel produktiver. Deshalb ist es u.a. so wichtig, dass die Stellvertreter in der Aufstellung, nachdem der Klient das erste Bild (also die eigene Sicht, das Abbild des eigenen Erlebens) aufgestellt hat, volle Freiheit bekommen, sich so zu bewegen, wie es ihnen und dem System gut tut.

Also, vereinfacht gesagt: Patienten, die zu viel Klarheit haben, werden wir verwirren (müssen). Nun haben wir aber auch immer wieder Patienten, die verwirrt sind oder über Verwirrung klagen und in die Therapie kommen, um Klarheit und Ordnung herzustellen. Wirklich? Jein.

Die Verwirrung als Symptom der seelischen Störung ist häufig ein unbewusster Schutzmechanismus. Dieser mag zwar mit Leiden verbunden sein – der Patient scheint unter der Verwirrung zu leiden – ähnlich der Patientin, die in der Therapie nach dem Sinn des Lebens sucht … –, doch häufig wäre die Klarheit über das Leben und die Herausforderungen wesentlich schmerzhafter. Ich habe es wirklich schon „so oft“ erlebt, nur als Beispiel, dass Patient*innen sich über die Verwirrung oder den fehlenden Sinn beklagen und in der Therapie „herumphilosophieren“ wollen (nicht mit mir, denn ich bin Philosoph :-)), aber wochenlang nicht damit herausrücken, dass ihr Partner sich gerade von ihnen trennen will!

An dieser Stelle verweise ich gerne auf den ABC-Check: Wir müssen uns als Therapeuten ein klares Bild vom aktuellen Leben des Patienten machen – und prüfen, wie weit ihm der Schrecken, das Unausweichliche, die Herausforderungen, aber auch die Ressourcen und die Chancen im aktuellen Leben selbst klar sind. Als Therapeut kann und darf man den sanften Schleier der Verwirrung nicht am ersten Tag herunterreißen, aber er muss letztlich fallen.

Selbstverständlich bin auch ich manchmal verwirrt und werde aus Patienten einfach nicht schlau, da gibt es immer wieder viel Widersprüchliches, und das sollte man als Therapeut aushalten können. Es ist gut, in einem Team zu arbeiten, wo verschiedene Wahrnehmungen und Deutungen zusammengetragen werden. Wenn es trotzdem bei der Verwirrung bleibt, so hat das nach meiner Erfahrung häufig mit einem Geheimnis des Patienten zu tun; ein meist schambesetztes Geheimnis, was er oder sie nicht lüften mag oder kann (Essstörung, Drogen-, Spiel- oder Sexsucht, Schulden, Geschlechtsidentitätsprobleme, Trauma, Familiengeheimnis u.a.m.) – oder was er bzw. sie selbst noch gar nicht kennt. Da können wir nichts beschleunigen, und es gibt glücklicherweise meist genug, was man dennoch in der Therapie üben kann, aber in allgemeiner Form spreche ich es doch an: „Für mich steht hier bei Ihnen irgendein Geheimnis im Raum. Und es ist völlig okay für mich, dass Sie Geheimnisse für sich zu behalten.“ Manchmal füge ich hinzu: „Reden Sie mit Ihrem Tagebuch darüber!“

Last but not least gibt es einen hohen „Rest“-Anteil an Widersprüchlichkeiten im Leben wie auch in der Therapie. Wir Therapeuten wollen z.B. keine braven Patienten, aber die abweichenden Exemplare versuchen wir doch „auf Spur“ zu bringen. Oder wir sagen, „Sie sind die Expertin für Ihr Leben“, und doch geben wir der Patientin Aufträge und Ratschläge oder versuchen ihre Erkenntnis in eine bestimmte Richtung zu lenken. Daran ist nichts per se Verkehrtes, wir sollten uns nur über die vielen Widersprüchlichkeiten bewusst sein.

Und erst im Leben! Folgt man den Zen-Meistern, die es doch irgendwie durchschaut haben sollten (das Leben), und ihren jahrhundertealten Parabeln und Weisheiten, so ist der Clou darin fast immer eine Paradoxie. Sobald der Schüler glaubt, er habe es (das Leben, die Aufgabe) begriffen und kann es logisch klar formulieren, wird ihn der Meister mit einem nachsichtigen Lächeln als ziemlich naiven Anfänger überführen. Nix kapiert, Junge!

Man könnte fast sagen: „Solange es logisch klar wirkt, ist es nicht ganz lebensecht.“(*) Naja. Zwischen Logik und Psychologik gibt es jedenfalls Unterschiede, die mit dem Leben zu tun haben: Wir müssen erwachsen werden und dabei für das Kind in uns sorgen, d.h. zum Beispiel spielen – wann immer möglich? Wir sollen lernen, für unsere Bedürfnisse einzutreten, und werden dabei auf paradoxe Weise zu Sozial- und Friedensbotschaftern? Wir brauchen ganz viel Ich-Kraft, um gesund zu werden, aber die höchste Stufe soll dann in der Auflösung des Ego bestehen?

Natürlich könnte man diese Paradoxien mit viel Aufwand und Fußnoten als Scheinwidersprüche überführen oder These und Antithese zu einer Synthese führen. Doch dieser dialektische Dreischritt tat nicht nur im realen Sozialismus den Dingen massiv Gewalt an, schon bei Hegel, dem neuzeitlichen Wiederentdecker der Dialektik, war das so. Wir sollten die Verwirrung schätzen lernen, zumindest nicht auszurotten versuchen!

(*) Der Satz stammt so oder in Varianten von A. Poraj: EntTäuschung. Eine besondere Einführung ins Zen, Kösel, München 2016