A wie Als-ob-Philosophie

Wann haben Sie das letzte Mal so getan „als ob“? Ich meine nicht: andern etwas vorgemacht. Sondern etwas neu oder anders gemacht als gewohnt, obwohl Sie eigentlich der Meinung waren, Sie können das (noch) nicht. Diese Reflexion könnte also auch mit „A wie Alternative“ betitelt werden.

Die Philosophie des Als Ob ist eine vielseitig verwendbare Interpretation der Erkenntnistheorie. Sie versucht, den Widerspruch aufzulösen zwischen dem alltäglichen Weltverständnis, dass alles eben so ist wie es ist, und der Erkenntnis des Philosophen, dass wir bei genauerer Prüfung unseres Erkenntnisvermögens einräumen müssten: „Nichts Genaues weiß man nicht“ – oder etwas philosophischer formuliert: „Wie wirklich die Wirklichkeit wirklich ist, das können wir nicht wissen.“ Um jedoch handeln zu können, tun wir eben so, als ob sie wirklich sei und als ob unsere Erkenntnis auch die Wirklichkeit abbildet.  

Was hat das mit Therapie zu tun? Mir erscheint es eines der wichtigsten Prinzipien jeglicher Medizin, so zu tun als ob. Die Hochschulmedizin und viele der von ihr geprägten Mediziner erwecken den Anschein, als ob die Medizin größtenteils eine Naturwissenschaft sei und als ob ihr Handeln ganz überwiegend wissenschaftlich belegt sei, als ob stets ein enger Zusammenhang zwischen objektivem Befund und subjektivem Befinden bestünde (und umgekehrt) usw. Dies ist bekanntlich nicht der Fall, und viele Verordnungen und Therapien beruhen auf Tradition, Expertenmeinungen, Intuition, natürlich auch auf massiver einseitiger Information seitens der Pharmaindustrie (ohne dieses Fass hier öffnen zu wollen) und eben diesem „so tun als ob“.

Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt. Wieso Götter? Weil die westliche Medizin gelegentlich ihrer griechischen Ursprünge gedenkt. Stimmt die Aussage, dass (erst) aus der Diagnose die (richtige) Therapie folgt? Jein. Viel seltener jedenfalls, als wir früher dachten. Denn im Übergang von der Diagnose zur Therapie findet ganz viel „als ob“ statt: Verständlicherweise tun wir so, als ob das, was schon bei vielen Patienten mit XYZ (Krankheit/Symptom) geholfen hat oder geholfen haben soll, auch bei diesem Patienten hilft. Was man liebevoll Zweckoptimismus im weißen Kittel nennen darf, denn schon der Blick in Studien verrät, dass es immer einen größeren Teil an Patienten gibt, die auf das Medikament bzw. die Therapie nicht ansprechen.

Es kommt aber noch besser fürs als-ob-Prinzip. Häufig kann gar keine Diagnose gestellt werden, weil es zu lange dauern würde oder zu aufwändig wäre, oder dies wird auch gar nicht für nötig befunden. Vor einiger Zeit litt ich unter einem nebulösen Hautauschlag, den ich mit naturheilkundlichen Maßnahmen und Mitteln nicht unter Kontrolle bekam. Vom Hausarzt bekam ich eine Salbe, die gleichzeitig gegen Bakterien und Pilze wirkt und das lokale Immunsystem mittels Kortison unterdrückt und daher auch allergische Reaktionen besänftigt. Mir wurde geholfen, der Ausschlag verschwand. Manchmal scheint es geradezu „best practice“, so zu tun als ob (wir eine Diagnose gestellt und eine zielgerichtete Therapie verordnet hätten). Hinterher ist man ja immer klüger. Und manchmal lässt sich eine Diagnose am einfachsten im Nachhinein stellen – „da haben wir’s“. Die Medizin spricht dann von einer Diagnose „ex iuvantibus“ (durch den Heilerfolg).  Naja, für meinen Ausschlag gab’s keine Diagnose, dafür hätte die Therapie spezifischer sein müssen (z.B. nur ein Antipilzmittel, wenn das Ekzem verschwunden wäre, hätte dies für einen Pilz gesprochen), aber dafür wäre auch das Risiko des Scheiterns größer gewesen.

In der Psychotherapie ist das als-ob-Prinzip ein Segen und ein Werkzeug, auch wenn es eher selten explizit benannt wird. Wenn wir nicht wissen, um welche Gefühle und Bedürfnisse es gerade geht, dürfen wir durchaus den Klienten dazu einladen, für einen Moment oder längeren Zeitraum so zu tun, als ob es (z.B.) um Wut oder (z.B.) um das Bedürfnis nach Anerkennung gehe. Mal in das als-ob-Angebot hineinspüren. Aus der systemischen Therapie kennen wir außerdem Hausaufgaben und Experimente, in denen der Klient so tut, als ob das Wunder bereits geschehen und das Problem gelöst sei oder er längst in der Lage wäre, diese oder jene Aufgabe zu lösen. Oder auch ganz unabhängig von Problemen und Aufgaben: Ich kann schon jetzt so tun als ob ich (trotz Fortbestehen meines Problems), mehr Lebensqualität produzieren darf. Um mein Essen zu genießen oder auch um gut zu schlafen, müssen meine Probleme gar nicht gelöst sein – denn ich kann so tun als ob. Und das hat nichts mit verlogen, sondern mit vernünftig sein zu tun. Dem Gehirn und der Quelle unserer glücklich machenden Botenstoffe ist es egal, ob wir wirklich lustig drauf sind, oder 20 Minuten Lachen, weil wir Lachyoga trainieren also so tun als ob. Und beim Lachen wie beim Singen oder Tanzen und bei vielen anderen lebensbejahenden Äußerungen führt der Weg zur wirklichen Heiter- oder Leichtigkeit nicht selten über ein beherztes so tun als ob.

Für dieses so-tun-als-ob-Prinzip gibt es handfeste neurobiologische Argumente. Antonio R. Damasio (Der Spinoza-Effekt, Berlin 2005) unterscheidet Emotionen (emotions) von Gefühlen (feelings). Bei Emotionen handelt es sich um körperliche Reaktionen auf bestimmte Reize, zunächst einmal solche, die uns die Evolution vorgegeben hat, doch das Repertoire an Reizen, die Glück, Trauer und andere Emotionen auslösen können, wird durch die individuelle Lebensgeschichte erweitert. Gefühle sind gedankliche oder bewusstseinsmäßige (mentale) Verarbeitungen dieser körperlichen emotionalen Zustände. Aber Gefühle müssen nicht immer hinterherhinken: Emotionen lösen Gefühle aus, umgekehrt können Gefühle auch Emotionen steuern. So entwickeln wir im Lauf des Lebens in Bezug auf Emotionen Voraussicht und die Fähigkeit, individuell emotional zu agieren. Jede*r kennt das: Manchmal sind wir aus heiterem Himmel fröhlich oder traurig, ohne die Gründe zu erkennen, dann assoziieren wir Gedanken, wir projizieren die Emotion auf „irgendwas“ bzw. interpretieren die Emotion als Gefühl. Wie können wir den Mechanismus nutzen? Grundloses Lachen, wie es bei neurologischen Elektrostimulationen hervorgerufen wird, wie wir es aber auch z.B. vom Lachyoga kennen, führt zu Gefühlen der Heiterkeit. Dem Gehirn ist es im Grunde (nämlich im Hirnstamm) egal, warum oder wie „echt“ wir heiter sind. Damasio zitiert dazu eine Passage aus dem Musical „Anna und der König von Siam“, in der Anna erklärt, wie das Pfeifen einer fröhlichen Melodie Furcht in Zuversicht verwandeln kann: „Wenn ich die Menschen, die ich fürchte, hinters Licht führe, führe ich auch mich selbst hinters Licht.“ Mit scheinbar sinnlosen oder sogar widersinnigen Emotionen lassen sich Gefühle heraufbeschwören, und das muss man nicht unbedingt als „Täuschungsmanöver“ bezeichnen.

Wie oft fällt Ihnen eigentlich auf, dass wir uns so verhalten, als ob wir noch ein zweites Leben haben würden? .. als ob im Rentenalter das Beste zum Schluss käme? … als ob die Einhaltung des Abgabetermins in dieser Woche lebensentscheidend wäre? … als ob die Arbeit wichtiger als die Familie wäre? … Und als ob es außer dieser Erde noch eine zweite gäbe?! Genaugenommen leben wir alltäglich fest verstrickt im als-ob-Konjunktiv des Irrealen, tun uns jedoch ziemlich schwer, wenn es darum geht, versuchsweise den als-ob-Konjunktiv der Möglichkeit zu testen: Ich tue jetzt mal so, als ob ich mein bester Freund sei. Ich stelle mal keine weiteren Bedingungen, die erst erfüllt sein müssen, bevor ich wirklich lebe, sondern ich tue so als ob. „A wie Anfängergeist“ fällt mir dazu noch ein: Ich tue so, als ob mir meine Sinne und meine sonstigen Gaben gerade jetzt erst geschenkt worden wären. Die „Philosophie des Als Ob“ ist eine Sofortmedizin, will heißen: offene und tiefgründige Fragen klären wir zu gegebener Zeit oder überlassen sie gleich den Philosophen 🙂

Wie war das noch: „A wie Alternative“?! Oft bestehen wir darauf, dass es keine Alternative gibt. Da wir nicht den Mut haben, die Alternative zu ergreifen, wollen wir Sie erst gar nicht erkennen. Das Erkenntnisproblem (welche Alternativen gibt es) ließe sich mit Kreativtherapie lösen, wenn ich bereit bin zu akzeptieren, dass es immer einen Weg gibt. Ich habe gelernt, immer mal wieder so zu tun, als ob ich den Mut hätte, einen Schritt nach vorn zu gehen, obwohl „in Wirklichkeit“ da eher viel Angst zu spüren war. Mittlerweile ist mir klar, dass der Unterschied zwischen „so tun als ob“ (mutig spielen) und „wirklich“ (mutig sein) meist minimal ist. Probieren Sie es aus!

Tipp: Es gibt eine in der Ratgeberliteratur ziemlich verbreitete Übung, die da lautet, tun Sie mal so, als ob sie nur noch ein Jahr oder sogar nur ein halbes oder sogar nur noch einen Tag zu leben hätten. Ich mag diese Aufgabe gar nicht! Vermutlich weil ein solcher Ansatz, mit Schrecken und Not einen kreativen Impuls zu erzwingen, unsere Kapazitäten, etwas neu und anders zu machen, eher hemmt. Zumindest bei mir ist das so. Ich schlage daher eine Variante vor: Tun Sie mal so, als ob Sie ein ewiges Leben hätten (also so lange leben wie Sie leben wollen) oder auch ein komplettes zweites Leben „im Koffer“ hätten … und fantasieren Sie drauflos, was Sie da alles machen wollten. Aufschreiben oder aufmalen was kommt, ohne Zensur. Und dann diese Liste, Skizze oder Mindmap durchsehen, was davon Ihnen wichtig erscheint – und wohlwollend  (:-)) prüfen, was Sie davon vielleicht doch schon jetzt leben oder anfangen könnten. Vergessen Sie nicht, ab und zu in den Koffer zu schauen!