Vorbemerkung: Das Absetzen von Arzneien kann u.a. zu schwerwiegenden Entzugserscheinungen mit unvorhersehbaren Folgen führen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass weder in diesem noch in anderen Beiträgen des Blogs wastutdirgut.de dazu geraten wird, eigenmächtig Medikamente abzusetzen. Im Gegenteil rate ich gerade bei Psychopharmaka zu Rücksprache mit einem Arzt und zu ärztlicher Begleitung.
Die Zahl der Patient*innen mit psychologischen Diagnosen stieg im Zeitraum 2008-2018 um 25%. Das wäre an sich erstaunlich genug. Doch die Zahl der ärztlichen Verordnungen von Antidepressiva stieg im annähernd gleichen Zeitraum (2008-2017) um 50%. Es kommt noch schlimmer: Legt man nicht die Zahl der Rezepte, sondern die verordneten Tagesdosen zugrunde, stieg der Verbrauch von Antidepressiva um 100%! „Moderne“ Antidepressiva sind mit Abstand die meist verkauften Psychopharmaka, dahinter folgen „alte“ und spezielle Antidepressiva, die z.B. gegen Depressionen und Ängste gleichzeitig helfen sollen.
Gibt es wirklich so unfassbar viel mehr depressive Patient*innen als vor 25 oder 50 Jahren? Peter C. Gøtzsche, renommierter Pharmakritiker und Aufklärer in Sachen Wissenschaftsbetrug zugunsten der Pharmaindustrie, hält das für Unsinn. Er hat festgestellt, dass das Geschäft der Krankheitserfindung nirgends so brutal verfolgt wird wie im Bereich Psychiatrie (es fließen auch nirgendwo in der Medizin so viele Pharmagelder an meinungsbildende Wissenschaftler). Beispiel Depression: Im diagnostischen Handbuch DSM-III „war Trauer nur dann eine depressive Störung, wenn sie länger als ein Jahr anhielt. Im DSM-IV waren es zwei Monate, im DSM-V sind es nur noch zwei Wochen.“
Der Glaube an Stimmungsaufheller oder: Die Glückspillen-Pandemie
Sie werden vielleicht einige Thesen dieses Beitrags für übertrieben halten, ich fürchte jedoch, das Gegenteil ist der Fall. Vom Hausarztbesuch oder auch nach einem Klinikaufenthalt (etwa wegen orthopädischer oder kardiologischer Anlässe) bringen Patient*innen vermehrt Antidepressiva auf ihrem Medikamentenplan mit. Die Logik dahinter kennen wir von den Säureblockern alias Protonenpumpenhemmern (PPI): Da der Patient einige Medikamente verordnet bekommt, die auf den Magen schlagen können, gibt man „vorbeugend“ noch ein PPI dazu. Und bei den „Stimmungsaufhellern“ ist es ja noch viel naheliegender, dass jeder zweite Patient davon profitiert – wirken nicht viele von ihnen ziemlich betrübt?
Bevor ich einem Patienten zu Antidepressiva raten könnte, würde ich viele Fragen stellen: Wie viel trinken Sie? Wie viel bewegen Sie sich? Kennen Sie oder Ihr Arzt Ihre Schilddrüsenwerte im Detail? Nehmen Sie Blutdrucksenker oder Schmerzmittel? usw. usf. Natürlich würde ich auch nach den psychosozialen Lebensumständen fragen – z.B. „Wie viel Ansprache haben Sie jeden Tag?“ – an denen Psychopharmaka nichts ändern können. Als Heilpraktiker bin ich in der glücklichen Lage, dass ich prinzipiell keine verschreibungspflichtigen Medikamente verordnen darf, und in der unglücklichen Lage, dass ich viele Patienten kenne, wo ich oft nicht (mehr) zum Absetzen der Medikamente raten kann und darf, weil dies zu heikel wäre.
Wehret den Anfängen! Ein schönes Motto, allerdings verstehe ich es komplett entgegengesetzt wie die Pharmaindustrie. Zahlreiche Medikamente haben als Nebenwirkung eine depressive Wirkung, beispielsweise trifft dies auf Blutdrucksenker zu (die natürlich oft unverzichtbar sind!), besonders bekannt ist dies von Betablockern. Im Vergleich zu anderen Arzneien für Herz und Kreislauf sind Betablocker zwar eher nebenwirkungsarm und oft zu bevorzugen, allerdings mit je nach Dosis stark dämpfender Wirkung. Falls Sie es aus eigener Erfahrung kennen, kann ich Ihnen versichern, Sie sind nicht der (die) erste, der sagt: „Lieber kürzer leben, als derart deprimiert.“ Nun gibt es glücklicherweise medikamentöse Alternativen, die es lohnt auszuprobieren (und damit meine ich übrigens nicht primär Naturheilkunde oder Homöopathie).
Weniger bekannt ist, dass auch Schmerzmittel oder die bereits erwähnten Protononenpumpenhemmer unerwünschte depressive Effekte haben können, und ebenso die Anti-Baby-Pille. Bei Kombination verschiedener Medikamente an einem Patienten, und das ist gerade bei Senioren keine Seltenheit, erhöht sich das Risiko für iatrogene (ärztlich verursachte) Depressionen. Es ist aber dann keine Patentlösung, zu den fünf, sechs, sieben oder mehr Arzneien auf dem Medikamentenplan auch noch Antidepressiva hinzu zu packen.
Die Diagnose „Altersdepression“ wird m.E. oft voreilig gestellt. Sicher gibt es viele Senioren, die unter ihren Lebensumständen und ihren Perspektiven leiden, aber das macht noch keine Diagnose. Doch wenn man an Stimmungsaufheller glaubt, sieht man überall Altersdepressionen. Der Hammer sieht nur Nägel.
Ähnlich leichtfertig wie bei Senioren wird z.B. Frauen in der Menopause oder danach die Einnahme von „Stimmungsaufhellern“ nahegelegt, Antidepressiva werden sogar gezielt als (post)menopausale Medikamente vermarktet (in einigen Ländern sogar als solche zugelassen!). Doch diese Lebensphase ist, abgesehen von den mehr oder weniger dramatischen hormonellen Veränderungen, zu komplex und herausfordernd, als dass Psychopharmaka der Mehrheit der betroffenen Frauen helfen könnten, höchstwahrscheinlich schaden sie ebensohäufig und verschlimmern die Probleme.
Übrigens ist es bei Kindern und Jugendlichen nicht anders, die Pharmaindustrie kennt keine Gnade! Ich halte mich hier raus aus dem Thema, weil ich selten mit Kindern in der Praxis zu tun habe. Lesen Sie, falls Sie schlechte Laune bekommen wollen, Peter Gøtzsche.
Während das Geschäft der Krankheitserfindung läuft und läuft, versucht die Pharmaindustrie uns eine neue Brille zu verpassen: die Screening-Brille. Wir sollen ständig Ausschau halten nach Depressionen und depressiven Menschen, denn ihnen kann – sogar schon vorbeugend oder jedenfalls flankierend und unterstützend – mit „Stimmungsaufhellern“ geholfen werden. Kombiniert mit den Informations- bzw. Werbemöglichkeiten des Internets und der künstlichen Intelligenz (und weiter kombiniert mit bewährten Methoden der Bestechung) wird uns dieser pervertierte Präventionsgedanke die schlimmste und anhaltendste Pandemie des 21. Jahrhunderts bescheren, und die Wissenschaft ist voll dabei.
Die Studienlage: ohne Tricks eher ernüchternd bis deprimierend
Metaanalysen (Auswertungen vieler Studien), selbst jener Studien, die industriefinanziert waren, zeigen immer wieder, dass Antidepressiva nur bei einer Minderheit der Patienten wirken und oft minimal im Vergleich zu Placebo (Scheinmedikament): Beispielsweise benötigen Patienten mit schweren Depressionen in der Placebogruppe nur wenige Tage mehr für eine deutliche Besserung ihres Zustands. Bei einer entsprechenden Studiengröße oder statistischen Verarbeitung lässt sich daraus aber ein Bombenerfolg basteln.
Bei leichter bis mittelgradiger Depression zeigen Antidepressiva gegenüber Placebo in einer Reihe unabhängiger Studien minimale oder keinerlei Vorteile. Deshalb sollte man gerade bei der Erstverordnung von Antidepressiva, die auch in Deutschland nicht selten durch den Allgemeinarzt erfolgt (in anderen Ländern ist das noch ausgeprägter) äußerst vorsichtig sein. Schwierige Lebensphasen und depressive Episoden haben wir wie unsere Vorfahren alle ein- oder mehrmals, sie verschwinden entweder, heute kaum zu glauben, von alleine oder durch psychosoziale und psychotherapeutische Hilfe. Konkrete Unterstützung hilft. Reden hilft.
Antidepressiva führen teilweise zu beträchtlichen Nebenwirkungen, die paradoxerweise Patienten manchmal dazu verleiten, an die Wirkung zu glauben. Wie bitte, was? Ja, in Studien tritt der sogenannte Placeboeffekt tatsächlich paradoxerweise in der Verumgruppe auf (=in der Gruppe mit dem echten Medikament): An den Nebenwirkungen merken Patienten, dass sie ein „richtiges“ Medikament bekommen, d.h. die Verblindung der Studie entfällt. In der Placebogruppe dagegen tritt oft kein Placeboeffekt auf, da es gar keine echte Placebogruppe ist: Die Patienten hatten vorher Antidepressiva eingenommen und leiden entsprechend während der Placebophase unter massiven Entzugssymptomen. Jetzt muss man die Auswertung dieser verkehrten Studienwelt nur noch Forschern in Diensten der Pharmaindustrie überlassen, dann ergibt sich erneut eine grandiose Wirksamkeit für Antidepressiva.
Das Scheitern des biologischen Modells (und warum es nicht bemerkt wird)
Wie wirken sie überhaupt? Das herrschende biologische Modell besagt, dass bei einer Depression das Gleichgewicht bestimmter Botenstoffe im Gehirn (der Monoamine) vorübergehend gestört ist. Dazu gehören bei Depression vor allem Serotonin oder Noradrenalin. Moderne Antidepressiva sollen die Konzentration dieser Botenstoffe erhöhen, und das auch noch „selektiv“, so als würde man ganz gezielt eingreifen. Fertig sind die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, mit der englischen Abkürzung SSRI. Das Wissenschaftsmagazin Quarks nennt die wissenschaftlichen Belege für diese Erklärung „widersprüchlich“, und ein Bericht bzw. eine „Orientierungshilfe“ der Weltgesundheitsorganisation WHO stellte unlängst fest, dass in Ländern, wo überwiegend nach dem biomedizinischen Modell, also mit Psychopharmaka behandelt wird, geringere Heilungsraten als in anderen Ländern (in denen etwa psychosoziale Hilfe im Vordergrund steht) zu verzeichnen sind.
Pharmakonzerne tun wahrlich alles, um einen anderen Eindruck zu wercken. Mit einigem Erfolg. Die Pharmaindustrie musste in den USA, obwohl sie (nicht nur dort) oft von Behörden geschützt und unterstützt wird, schon Milliarden für betrügerische Vermarktung von Psychopharmaka zahlen. Aber das scheint ihr nicht weh zu tun und den weit verbreiteten Glauben bei einem Teil der Ärzte und Patienten, diese Pillen wirkten als Stimmungsaufheller oder Stimmungsstabilisatoren, nicht besonders zu beeinträchtigen.
Gøtzsche hat den Vorschlag gemacht, die Silbe „Anti“ im Wort „Antidepressiva“ zu streichen: Es gibt keine Medikamente „gegen Depressionen“, sondern im Wesentlichen Arzneien, die Patienten beruhigen, betäuben oder abstumpfen – oder eben stimulieren. Das mag manchmal sinnvoll oder gar unvermeidlich sein. Langfristig können sie jedoch, und das ist entweder weithin unbekannt bei Ärzten oder wird bestritten, durch Abhängigkeit und Persönlichkeitsveränderungen häufig die Probleme erzeugen, die sie zu heilen vorgeben. Manchmal wirken sie sogar in der kurzfristigen akuten Anwendung verheerend, wie da Beispiel Fluoxetin zeigt.
Für Glücksbotschaften über Leichen gehen
Es war das erste der „neuen“ Antidepressiva vom Typ SSRI und kam Ende der 1980er Jahre auf den Markt. Die Daten für seine Wirksamkeit waren zunächst so dürftig, dass selbst die Pharmafirma Eli Lilly erwog, das Medikament einzumotten. Doch dann hat man sich anders entschieden, Fluoxetin wurde trotz gravierender Studienmängel zugelassen und entwickelte sich recht schnell zum Kassenschlager. Allerdings haben Ärzte die Diagnose Depression damals noch lange nicht so großzügig gestellt wie heute. Also musste Eli Lilly, um die Umsätze weiter zu steigern, in die Trickkiste greifen und vermarktete es als „Stimmungsaufheller“. Die Glückspille der Pharmaindustrie war neugeboren. Tatsächlich wirkt es bei einem Teil der Patienten ähnlich wie Kokain oder Amphetamine – aber mit allen Folgen, die diese Straßendrogen haben.
Es gab Hunderte von Suiziden nach Einnahme von Fluoxetin (und auch Gewaltverbrechen). Eli Lilly wusste seit 1978, also zehn Jahre vor Markteinführung, dass das Medikament bei einem Teil der Patienten zu einer Art lebensgefährlicher Unruhe (Akathisie) führen kann und empfahl daher, begleitend Beruhigungsmittel zu verabreichen, versuchte aber gleichzeitig das Wort „Suizid“ aus allen Firmenunterlagen zu streichen. Neben Eli Lilly taten auch Pfizer und GSK alles dafür, die Risiken ihrer eigenen SSRI zu verschleiern, etwa in dem gezielt Suizidfälle statistisch in die Placebogruppen geschummelt wurden, so dass man die medikamentös bedingten Suizide als entsprechend der Normalverteilung abtun konnte. Mittlerweile muss zwar laut Beipackzettel bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf das erhöhte Suizidrisiko unter SSRI hingewiesen werden, Gøtzsche vermutet allerdings, dass das Suizidrisiko in allen Altersgruppen steigt.
Das National Institute of Mental Health (NIMH) bezahlte um die Jahrtausendwende 35 Millionen Dollar für die größte Studie zu Antidepressiva namens Star*D. Die Forscher behaupteten in der Zusammenfassung, bei 67 % der Patient*innen sei die Depression zurückgegangen, doch bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass für dieses tolle Ergebnis zuvor jede Menge Tricks angewandt worden waren, etwa in dem nachträglich ganz anders ausgewertet wurde als im Prüfplan geplant – was wissenschaftlichen Studienkriterien komplett widerspricht. Wissenschaftler, die die Studie nachanalysierten, kamen zu dem Schluss, dass wahrscheinlich nur 3 % der Patient*innen von SSRI profitierten. Wie kommt das? Es handelte sich zwar um eine öffentlich finanzierte Studie, doch zehn der Forscher erhielten Zuwendungen von Lundbeck, dessen Citalopram zum Einsatz kam, auch heute noch ein echter Gassenhauer bei der Stimmungsaufhellung.
Im Gehirn gibt es mehr als 200 Neurotransmitter. Warum wir einen solchen Wirbel um Serotonin machen, das hat maßgeblich mit der Pharmaindustrie und ihren Marketingstrategien zu tun. Meine Prognose lautet: Wenn irgendwann, eines nicht so fernen Tages, nicht mehr genug Geld mit den SSRI gemacht werden kann, weil sie nach und nach wegen ablaufendem Patentschutz zu günstig geworden sind, findet sich ein neuer besonders prominenter Botenstoff – und mit ihm wird dann die nächste „Revolution“ der pharmakologischen Psychotherapie eingeläutet, alles noch viel spezifischer und selektiver, effektiver und nebenwirkungsärmer und für noch viel mehr Abnehmer. Dann wird bestimmt auch eingeräumt, dass „man“ ja schon lange weiß, welche Probleme es mit der „letzen Generation“ von Psychopharmaka gab. So etwas nennen sie, die gut bezahlten Opinion Leader und Key Opinion Leader, wissenschaftlichen Fortschritt. Wer‘s glaubt, wird selig und kommt vielleicht schneller in den Himmel, als ihm lieb ist. Derweil betet man in manchem Pharmaunternehmen, dass ein solcher wundersamer Botenstoff noch rechtzeitig entdeckt wird. Sonst sind die zwanghaften und voll verrückten (!) Umsatzsteigerungen nicht zu halten.
Bitte beachten Sie nochmals: Falls Sie Psychopharmaka absetzen wollen, benötigen Sie unbedingt einen Arzt, der sich damit auskennt, oder sogar eine Klinik, in der sie dies unter engmaschiger Kontrolle tun können! Auf das Problem schwerwiegender Entzugserscheinungen, die häufig zur Dauerverordnung von Psychopharmaka führen, werde ich in einem späteren Blog-Beitrag eingehen.
Literatur:
- Peter C. Gøtzsche, Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen, riva Verlag, München 2016
- Verdienste um die Aufklärung der im Wesentlichen pharmabasierten Depressionstheorien vom chemischen Ungleichgewicht im Gehirn haben sich u.a. der Journalist Robert Whitaker und der Psychiater Peter R. Breggin erworben; beide bieten online viele lesenswerte Beiträge.