B wie bedingungslos

Es gibt nicht viele feste Sprachformeln, in denen „bedingungslos“ auftaucht: die bedingungslose Kapitulation des unterlegenen Kriegsgegners, neuerdings auch das bedingungslose Grundeinkommen (was eher ein Kampfbegriff zu sein scheint) und, wie könnte man sie vergessen, die bedingungslose Liebe. Glauben Sie daran: dass wir vom „wahrhaft“ geliebten Gegenüber rein gar nichts erwarten? Zu den psychologischen Perspektiven auf diese Liebe äußere ich mich im zweiten Teil des Textes – in der Hoffnung, sie auch durch den ersten Teil zu schleusen.

Mein Thema soll nämlich zunächst die bedingungslose Liebe zum Leben sein. Es handelt sich um ein Ideal, das unser Leben verändern kann, nun ja, zumindest die Orientierung im Leben. Wie realistisch das Ideal für Sie ist, merken Sie erst beim Praktizieren.

„Ich muss erst“ … In die Therapie kommen viele Klienten mit solchen Bedingungen: zum Beispiel „… aus dieser Arbeit raus“, „… meine Ängste loswerden“, „… mein Trauma bearbeiten“; oder auch in der Variante: „Erst wenn meine Schmerzen weg sind …“. Oft ist völlig unklar, ob und wann es gelingen kann, diese Bedingung zu erfüllen und wer darauf Einfluss hat. Derweil könnten wir doch längst anfangen, besser zu leben, für mehr Lebensqualität zu sorgen, das Leben nicht nur verstreichen zu lassen bis zum Zeitpunkt X.

Ein besseres Leben ist möglich, hier und jetzt, das ist die provokative Antithese gegen die „Bedingungen an mein Leben, bevor ich loslege“. Gewiss, die Klienten denken sich ihre Bedingungen nicht aus, oft trauen sie sich einfach fast nichts mehr zu. In der Therapie lernen sie hoffentlich, wie sich das Leben doch verbessern lässt, wenn wir etwas mehr Vertrauen ins uns und die Welt haben, auch wenn manches, manchmal sogar vieles beim Alten bleibt.

Tatsächlich übersehen wir oft, wie viele Bedingungen für ein lebenswertes Leben längst erfüllt sind, weil wir uns auf jene fixieren, die nicht erfüllt sind: Auch wenn wir im späteren Leben körperlich nie mehr so fit wie mit 21 und geistig-seelisch nicht mehr so hoffnungsvoll oder gutgläubig sein werden, haben die meisten von uns auch dann immer noch zwei Beine zum Gehen (oder zum Tanzen) und zwei Hände und Arme zum Anpacken (oder in die Luft werfen). Ich weiß, man kann Patienten mit derartigem „positivem Denken“ in aggressive Abwehrhaltung und Widerstand treiben. Auch mir geht zu viel „Achtsamkeitsgedöns“ an manchen Tagen auf die Nerven. Und doch: Wir können so viel er-leben, mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug, mit jeder Begegnung, jetzt gleich, sobald wir aufhören, Bedingungen zu stellen; jetzt gleich, wenn wir die Koffer von Vergangenheit und Zukunft, die wir meist links und rechts in der Hand halten, mal abstellen. (Bei den Koffern handelt es sich um ein Bild von Ajahn Brahm.)

Es ist ein Wunder zu atmen, zu gehen, zu essen oder auch: zu reden. Es ist ein Wunder, dass wir leben und wie wir „funktionieren“. Aber wir sind oft nicht offen für dieses Staunen. Interessanterweise heißt einer der bekanntesten therapeutischen Tricks, um Klienten lösungsorientiert für ein besseres Leben zu gewinnen, die Wunderfrage: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen schlafen. In der Nacht geschieht das Wunder, ihre großen Probleme werden verwandelt, alle Bedingungen erfüllt.“ (Das ist die rationale Kurzfassung, in der Praxis schmücken wir sie bildhaft und phantasievoll mit vielen Details aus.) „Woran merken Sie am nächsten Morgen, dass das Wunder stattgefunden hat? Wer merkt es außer Ihnen – und woran? Was machen Sie jetzt anders …?“

Und der Trick? Besteht darin, den Klienten danach zu fragen, was von dem, das anders gemacht würde, er (sie) heute schon anders machen kann. Das setzt voraus, dass der Klient schon begriffen hat, dass niemand ihn retten wird außer er sich selbst und meist auch, dass er bereit ist, sich mit „kleineren Brötchen“ zufrieden zu geben bzw. diese schätzen zu lernen. Wir dürfen große Wünsche und Träume für die Zukunft hegen, aber wir üben jetzt, dem Leben in der Gegenwart mehr Qualität zu schenken. Dies stärkt unser Vertrauen, das Leben mehr selbst gestalten zu können.  

Als Kinder brauchten wir essentiell andere und da mussten definitiv bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit unsere Bedürfnisse befriedigt wurden. Jetzt verlassen wir diese Kleinkindhaltung und übernehmen mehr Verantwortung für das im Leben, auf das wir Einfluss haben. Es ist bemerkenswert, wie viele Patienten am Anfang der Therapie gerade solche Bedingungen an das Leben stellen, auf die sie nur sehr geringen Einfluss haben (z.B. dass endlich … der Chef sie gerecht behandelt, dass der Partner ein Einsehen hat oder auch dass die Rentenversicherung sie vorzeitig berentet).  

Bedingungslose Liebe zum Leben beruht auf einer inneren Haltung, vielleicht könnte man auch sagen: auf der Bereitschaft, Wünsche nicht mit Bedingungen zu verwechseln, und sie ist insofern verwandt mit der bedingungslosen Liebe zu einem anderen Menschen. Wir können auf der Grundlage einer religiösen, humanistischen oder buddhistischen Haltung prinzipiell mit jedem Menschen eine Ebene finden, auf der wir ihn (sie) bedingungslos lieben.

Allerdings, ausgerechnet unsere sog. Allerliebsten lieben wir in der Regel nicht bedingungslos. Der berühmte indische Philosoph Krishnamurti vertrat die These, nur dort, wo keine Bindung bestehe, sei echte Liebe möglich. Oder andersrum, „wo Gebundenheit ist, da ist keine Liebe.“ Er sei sich gewiss, dass er seine Frau nicht liebe, denn zu ihr bestehe ja eine Bindung, er sei regelrecht abhängig von ihr, was er unbedingt überwinden wolle. Anders als vielen spirituellen Lehren ging es Krishnamurti dabei nicht unbedingt um die Freiheit von sexuellem Begehren. Letztlich entstünden Bindung und Abhängigkeit, egal ob von einer Frau oder einer Theorie oder einer Belohnung, aus der Einsamkeit. Und diese werde vom Denken erzeugt. Wenn das Denken sich als begrenzt und Isolation erzeugend selbst erkenne, könne der Mensch frei werden. 

Das scheint ein starker Kontrast zur gängigen Auffassung der Psychologie, in der Bindung oft synonym mit Liebe verwendet wird. Dort, wo der Alltagsmensch von Liebe spricht, würde die Psychologie oftmals das Wort Bindung einsetzen. Bei Krishnamurti sind Bindung und Liebe Gegensätze! Ich halte den zugrundeliegenden absoluten Freiheitsbegriff für absurd: Wenn ich in diesem Sinne übermenschlich frei wäre, könnte ich kein freier Mensch mehr sein. Wenn ich dagegen wirklich Mensch bin, lasse ich mich auf Liebe (auch ohne Gegenliebe) ein. Es geht dabei nicht nur um meine Freiheit, sondern darum, dass ich das „Objekt“ meiner Liebe in Freiheit lassen kann, ohne mich abhängig und einsam zu fühlen. Ich meine, das sollte gerade einem spirituellen Lehrer möglich sein.

Richtig scheint mir die Beobachtung, dass die Liebe zu einem exklusiven Partner wohl fast nie bedingungslos ist. Sicherlich haben sowohl die Angst vor als auch die Sehnsucht nach Bindung etwas mit der mal existenziellen, mal individuell geprägten Einsamkeit des Menschen zu tun. Das Denken ist nicht „schuld“ daran. Und weil Angst und Sehnsucht so nah beieinander liegen, gitl hier wie anderswo (nicht immer, aber oft): „Wo die Angst ist, da geht’s lang!“

Es gibt jedenfalls die Möglichkeit, bedingungslos zu lieben. Schauen wir dafür auf vier Formen oder Stufen der Liebe:

1. Die spirituelle Liebe bezieht sich auf den göttlichen Kern eines jeden Menschen. Es ist eine Frage der Haltung – und Übung: Prinzipiell kann ich jeden Menschen auf diese Weise lieben, auch wenn ich ihn gleichzeitig auf anderer Ebene sehr schwierig finde oder ablehne (z.B. Gewalttäter). Wenn wir diese Liebe entdecken, ist es vielleicht keine Erleuchtung, aber eine Erlösung, denn wir können uns in der Menschheit zu Hause fühlen – trotz allem, was passiert. 

2. Die empathische Liebe fühlt sich in den anderen Menschen hinein und erlebt sein Gewordensein durch die Geschichte, versteht gefühlsmäßig den Leidensweg und erkennt, dass er oder sie sein Bestes gibt. Solche Liebe aus Mitgefühl ist in der Therapie geläufig, auch bei Patienten untereinander, also nicht nur Therapeuten möglich und sie folgt der Devise: „Verstehen kannst Du einen Menschen, wenn Du ein Stück in seinen Schuhen gehst.“

Diese beiden Formen der Liebe sind bedingungslos. Wir geben sie aus freien Stücken. Anders bei den folgenden beiden Formen:

3. Die sympathische Liebe bezieht sich auf Zuneigung zu bestimmten Menschen, die gewisse Merkmale aufweisen, wodurch sie unsere Liebe aktivieren. Verschwinden diese Merkmale oder überwiegen andere, verschwindet auch die Liebe.

4. Die exklusive Liebe entsteht aus Verliebtheit und zielt meist (aber nicht zwingend) auf exklusive Bindung. Sie erscheint bisweilen besonders „irrational“: dort wo z.B. eine magische Anziehung bis hin zur Abhängigkeit besteht, obwohl bestimmte Bedingungen (wie grundlegende Gemeinsamkeiten oder Seelenverwandtschaft) gar nicht erfüllt sind.

Diese beiden Formen der Liebe sind an Bedingungen gebunden: Wir wollen etwas vom geliebten Anderen, haben Erwartungen, riskieren in der Beziehung etwas, zumindest nehmen wir bewusst oder unbewusst Enttäuschungen in Kauf. Diese Formen der Liebe sind nicht bedingungslos, mit Bedürfnissen und Begehren verbunden, aber darum nicht weniger wert – ich denke, auch aus spiritueller Sicht nicht!

Das Kriterium „bedingungslos“ taugt also m.E. nicht, um die Qualität von Liebe zu bewerten. So scheint z.B. die Liebe von Eltern mitunter bedingungslos. Im Grunde ist dies das psychologische Ideal: dass ein Kind bedingungslose Liebe erfährt. Während aber manche Eltern ihren Nachwuchs nur dann „lieben“, wenn er ihren Vorstellungen oder ihren Leistungsansprüchen entspricht – was gar keine Liebe ist und daher auch nicht in den genannten Formen abgebildet wird – , gibt es umgekehrt auch solche Eltern, wo sich der Nachwuchs alles „erlauben“ kann (inkl. Schwerstverbrechen oder brutalen Verrat an den Eltern) und dennoch inniglich geliebt wird. Eine solche bedingungslose Liebe existiert gleichermaßen in entgegengesetzter generationeller Richtung: Viele Kinder, die von ihren Eltern schwer misshandelt wurden, vernachlässigt, geschlagen, missbraucht, sie lieben ihre Eltern trotzdem, sie können gewissermaßen nicht anders.

Möglich, dass solche Liebe auch in intimen Partnerschaften existiert: dass sich exklusive Partner bedingungslos lieben und in Liebe treu zueinanderstehen, egal was sich der andere „leistet“. Psychologisch scheint dies allerdings fraglich, d.h. zu fragen wäre, ob dabei nicht eher eine Form von Abhängigkeit und Selbstverleugnung vorliegt. Jedenfalls zeugt das Adjektiv „bedingungslos“ bei Liebe nicht zwingend von einem idealen Zustand, eher im Gegenteil, wir dürfen Bindungsprobleme unterstellen, seien es Bindungsängste oder Bindungszwänge: Schwierigkeiten, echte Bindungen überhaupt einzugehen, oder die Unfähigkeit, Bindungen, die schwer gestört sind, aufzulösen. Ich würde bei derartig verklärender Liebe als Therapeut immer die Frage stellen:

„Können Sie sich denn selbst bedingungslos lieben?!“ Das führt interessanterweise zurück in den Kernbereich der Frage, ob wir unser Leben bedingungslos lieben und leben können. Hoffentlich haben Sie den ersten Teil des Textes nicht übersprungen 😉

PS.

„Wünsche, an die wir uns zu sehr klammern, rauben uns leicht etwas von dem, was wir sein sollen und können. Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.“ Dietrich Bonhoeffer