D wie Dankbarkeit

Was hat man von schönen Momenten oder glücklichen Lebensphasen, wenn sie hinter uns liegen: der Urlaub vorbei, der geliebte Mensch gestorben, die Beziehung beendet usw. – was bleibt? Das habe ich mich früher öfters gefragt, in den letzten Jahren ist es weniger geworden. Es könnte damit zusammenhängen, dass man im Alter angeblich dankbarer wird (oder dass ich individuell derzeit dankbarer bin). Ich habe das Thema auch schon manchmal in kreative Therapieformen eingebracht, etwa Tanztherapie oder Achtsamkeitspraxis, immer ein bisschen gespannt, ob es wohl angenommen wird, besteht doch bei einem Teil der Patient*innen je nach Therapiephase ein ordentlicher Widerstand gegen alles, was als „positives Denken“ wahrgenommen wird. Ganz klar, einen Skeptiker wird man in dieser Frage nicht überzeugen, aber manch ein Unentschlossener kann vielleicht zur Probe aus Exempel bewegt werden.

Dankbarkeit scheint zunächst rückwärtsgewandt und daher ihr Nutzen für die Zukunft fraglich. Allerdings, das weiß man aus Studien, gehen dankbare Menschen und solche, die sich eine gewisse Dankbarkeitspraxis angeeignet haben, optimistischer in die Zukunft gehen und entwickeln mehr Frustrationstoleranz gegenüber den Unwägbarkeiten des Lebens, neudeutsch gesagt: Sie sind „resilienter“. Die Er-Innerung dessen, was gut war in der Vergangenheit (nicht zu verwechseln mit dem zwanghaft-positiven Schöngucken dessen, was schlecht war), trägt dazu bei, auch in der Zukunft eher das Positive zu erwarten – und in einer Art selffulfilling prophecy manchmal sogar herbeizuführen. Der dankbare Mensch erwartet mehr Chancen, erkennt und nutzt unbewusst den eigenen Anteil am Lebensglück wesentlich mehr als andere.

Die Praxis der Dankbarkeit beeinflusst also das Leben im Hier und Jetzt – wenn ich zehn Atemzüge bewusst genieße und mich für eine halbe Minute des Lebens freue, habe ich heute „netto“ mehr Lebensqualität – und die Prognose für die Zukunft. Aus systemisch-therapeutischer Sicht ist das völlig logisch und naheliegend. Wie oft verwenden wir den Blick in die nahe oder ferne Vergangenheit, um daraus Kraft zu schöpfen, wenn wir uns der Zukunft zuwenden: „Was ist heute schon Gutes passiert? Was war Ihr Anteil daran? Was könnte heute noch Gutes passieren? Und was wird Ihr Anteil daran sein? Was könnte in diesem Jahr noch Gutes passieren?“ So ähnlich ist es mit der Dankbarkeit: Die Einladung, durch die Brille der Dankbarkeit zu schauen, beinhaltet letztlich auch ein Angebot, mit dieser Brille nach vorne zu schauen: „Für was bin ich heute dankbar? Für was bin ich in meinem Leben dankbar? Wem bin ich dankbar? Für was sind andere mir dankbar? Für was bin ich mir selbst dankbar? Und wie praktiziere ich Dank, wie artikuliere oder ritualisiere ich ihn?“

Das wären an sich schon Gründe genug es zu versuchen – etwa ein entsprechendes Tagebuch zu führen, einen Moment dankbarer Besinnung bei Tisch zu pflegen oder ein Abendritual zu installieren.

Eine therapeutische Übung, die man ebensogut als spirituelle Praxis betrachten kann, besteht darin, versuchsweise die Logik des Alltagsverstandes umzudrehen: Es mal so zu betrachten, dass uns nicht Glück dankbar macht, sondern Dankbarkeit glücklich. Das ist nach meinem Verständnis auch die tiefere Bedeutung, des verschiedenen buddhistischen Meistern zugeschriebenen Spruchs: „Der Sinn des Lebens ist glücklich zu sein …“ So findet man es auf mancher Postkarte und wundert sich vielleicht: Eine Religion, die Glück zum Inhalt hat? Keine Religion, eher eine Lebenseinstellung. Der Satz müsste eigentlich fortgeführt werden: „… und glücklich wirst Du, wenn du weise und mitfühlend bist.“ Wie passt das zur Dankbarkeit? Wer weise und mitfühlend ist, erkennt das Gute in allen Wesen und gewissermaßen unter allen Umständen, ist dankbar für das Gute, auch wenn so viel es zu umgeben scheint.

So gesehen, verändert Dankbarkeit nicht nur mein Gefühl für die Vergangenheit, sondern diese selbst. Wie kann das sein? Keine Sorge, ich will hier nichts von Relativitätstheorie, Quantenphysik und Parallelwelten erzählen, denn ich verstehe nichts von alledem. Es geht eher um konstruktivistische Philosophie: Wenn das, was wir für Realität halten, zu wesentlichen Teilen von uns und unserem Blick darauf konstruiert wird, macht es natürlich einen großen Unterschied, wie ich auf die Vergangenheit schaue. Vielleicht sagen sie jetzt: „Aber das ist doch nur Einbildung oder Interpretation!“ Jein, sofern man Einbildung nicht so negativ als Fehlabbildung betrachtet und sofern man das Wörtchen NUR in Frage stellt. Ist nicht alles in gewisser Weise (nicht NUR sondern AUCH) Einbildung und Interpretation, also Folge des subjektiven Standpunkts und der individuellen Haltung? Ein paar Versuche wäre es wert. Mit Dankbarkeit kann man schöne Momente nicht nur be-Wahren, sondern sogar erzeugen.