Essstörungen wie Anorexie und Bulimie haben, sofern Erwachsene betroffen sind, eine ziemlich schlechte Prognose, etwa im Vergleich mit anderen psychischen Erkrankungen. (Eine ähnlich schlechte Prognose hat auch die massive Adipositas, auf die ich weiter unten noch zu sprechen komme.) Ein Grund für die eher düstere Perspektive ist, dass die zugrundeliegenden Probleme so tiefverwurzelt und behandlungsresistent sind – und die Essstörung als „Lösung“ ausgezeichnet funktioniert. Zu den Problemen „darunter“ gehören z.B. Selbstwert und existentielle Scham („ich bin nicht richtig“), Widerstand gegen das Erwachsenwerden oder die sexuelle Identität, dysfunktionale Beziehungen der Eltern als Paar oder/und zu den Kindern. Gerade das familiäre System hat einen großen Einfluss – und das weiß man auch schon sehr lange –, weshalb die isolierte Behandlung der Essstörung, wenn die Patientin im Erwachsenenalter noch oder wieder bei den Eltern wohnt (die Rückkehr ins Elternhaus ist kein Ausnahmefall), sich noch schwieriger als ohnehin gestaltet.
Aus all dem folgt therapeutisch zunächst einmal: Akzeptieren, was ist! Oder den klassischen Spruch aus der systemischen Therapie mal ganz konfrontativ angewandt: „Wir reparieren doch nichts, was funktioniert!“ Die Essstörung funktioniert. Solange wir für die zugrundeliegenden Probleme und Faktoren keine Abhilfe bieten können (und die kann ja oft gar nicht rein therapeutisch erfolgen, z.B. der Auszug aus dem Elternhaus), sollten wir uns bewusst sein, dass das Erzwingen von Gewichtszunahme oder ersatzlose Unterbinden von Ess-Brech-Anfällen riskant ist.
Es gibt zwar Patientinnen, bei denen die ursächlichen, auslösenden und störungs-erhaltenden Faktoren (scheinbar) ausgeräumt sind und die Essstörung dennoch fortbesteht, wie verselbständigt. Das ist gar nicht erstaunlich, da die Essstörung dazu tendiert, das Regiment zu übernehmen und sich von möglichen Nutzenerwägungen loszulösen. In diesen Fällen kann tatsächlich ein verhaltenstherapeutisches „Abtrainieren“ der Störung oder eine Art „Entzug“ der Mager- oder Ess-Brech-Sucht erfolgversprechend sein. Das betrifft aber definitiv nicht die Mehrheit der unter Essstörungen leidenden Erwachsenen.
Da zur Essstörung fast immer eine mehr oder weniger massive Tarnung, etwa mit Gesundheitsargumenten, und eine verzerrte Wahrnehmung gehören („ich habe aber doch die ganze Woche völlig normal gegessen“), benötigt die Behandlung der Essstörung eine ständige und kompromisslose Konfrontation mit der Realität.
Gewiss, weil so viele Täuschung bei diesen Störungen im Spiel ist, kann auch ich als Therapeut mich täuschen! Oder allgemeiner: Der psychotherapeutische Blick auf Menschen, die essgestört wirken, kann täuschen, das trifft auf anorektische, bulimische und adipöse Patienten zu. Es gibt immer Einzelfälle, bei denen wir uns irren. Doch wenn die Menschen zu uns in Psychotherapie kommen, ist es unsere Aufgabe, alle mit dem psychotherapeutischen Blick zu „konfrontieren“ – oder ihnen unsere Sichtweise „anzubieten“ (klingt irgendwie geschmeidiger, ist aber nichts anderes). Dazu gehört etwa, die medizinischen Risiken eines starken Untergewichts zu betonen, die ja auch dann bestehen, wenn gar keine Essstörung vorliegen sollte.
Der psychotherapeutische Blick auf Essen ist insofern ein völlig anderer als der ernährungswissenschaftliche oder naturheilkundlich-ganzheitsmedizinische. Patienten und Leser, die mich schon lange kennen, wundern sich vielleicht, was ich auf einmal „gegen gesunde Ernährung“ habe. Eigentlich nichts … Die manchmal sogenannte „gesunde Mischkost“ garantiert eine meist ausreichende Versorgung mit Makro- und Mikronährstoffen, ist aber ansonsten meist gar nicht so gesund. Der Begriff „Mischkost“ erlaubt es jedem durchschnittlichen, also eher ungesund lebendem Bürger, sich seine Kost schön zu gucken. Daran könnte man schon sehr viel verbessern in Richtung „gesunde Ernährung“.
Aus psychotherapeutischer Sicht sieht es allerdings anders aus: Eine durchschnittliche Mischkost (gesund oder ungesund) ist heute ein wesentliches Indiz dafür, dass die Betreffenden eher nicht an einer Essstörung leiden. Eine Essstörung kennzeichnet vor allem, dass Essen Stress bedeutet, den sich die Betreffenden selbst machen!
Natürlich kann man bekannte Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie anhand von extremem Untergewicht oder bekannten Ess-Brech-Anfällen bestimmen. Aber dabei würde man viele „atypischen“ Formen übersehen und d.h. viele Menschen, die in ihrem Essverhalten ebenso gestört sind (und leiden); auch wenn sie auf Nachfrage seitens des Arztes oder Therapeuten behaupten, „fein“ damit zu sein.
Da zu Essstörungen typischerweise eine besondere Form der Tarnung oder Geheimhaltung gehört – die Patienten machen sich und anderen etwas vor, meist ohne es zu merken – stelle ich oft besondere Fragen:
- Wie viele verbotene Lebensmittel haben Sie? Wie viele Verbote und Gebote bezüglich ihres Essverhaltens gibt es außerdem?
- Wie strikt sind ihre Verbote und Gebote? Bestrafen Sie sich für „Sünden“?
- Sind Sie mit Ihrem Essverhalten zufrieden?
- Wie viele Gedanken und wie viel Zeit verwenden Sie täglich und wöchentlich auf Essen, Gewicht und Figur?
- Was, glauben Sie, würde passieren, wenn Sie sich ganz anders ernähren würden?
Sicher kennt der Mensch mit eingefleischten Essstörungen einige Tricks, um sich und andere auch hier in die Irre zu führen. Dazu gehören ernährungstheoretische, auch ganzheitsmedizinische oder ethische bis weltanschauliche Argumente oder (meist nicht erwiesene) Unverträglichkeiten: Wenn ich ethischer Veganer bin, Zucker als Gift oder Droge betrachte und/oder die üblichen Unverträglichkeiten (Gluten, Lactose, Histamin etc.) habe, kommt „zufällig“ eine schöne Liste an verbotenen Lebensmitteln zusammen, die ich ausgezeichnet begründen kann.
Eine nahezu typische „Ideologie“ bei der modernen Anorexie ist die Orthorexie: das Leben nach gut begründbaren, aber extrem einseitig und streng ausgelegten Gesundheitsregeln. Sie kann auch isoliert ohne Gewichtsphobie auftreten. Solche Patienten sind bestens informiert und können einen Therapeuten an die Wand argumentieren.
Stark übergewichtige Menschen (zumindest ab BMI 35) haben in der Regel auch eine Essstörung, wenngleich das Bewegungsprofil auch eine gewisse Rolle spielt. Die typische „Ideologie“ von adipösen Menschen mit gestörtem Essverhalten besteht in Diättheorien oder verzerrten Varianten davon (etwa wenn aus „Intervallfasten“ der Nahrungsverzicht tagsüber abgeleitet wird).
In der Psychotherapie von Essstörungen wird jede Diät ebenso wie jede Orthorexie (rigid-gesunde Ernährung) als störungsverstärkend betrachtet. Zwar soll und darf jede(r) auf seine Weise glücklich werden, gerne auch orthorektisch oder mit Diäten. Doch Menschen mit Essstörungen sind selten glücklich damit! In Einzelfällen und je nach Phase kann die Störung zwar wie anderes zwanghaft kontrollierendes oder süchtiges Verhalten Halt und Sicherheit geben oder kurzfristig Erleichterung verschaffen. Doch das sorgt selten für nachhaltige Zufriedenheit.
Gerade bei schwer essgestörten Patienten ist die Störung oft der stärkste Anteil, inklusive ihrer Tarnung. Es gibt aber immer auch einen Anteil, der sich sehnlichst wünscht, dass endlich jemand die Tarnung aufdeckt. Da dies mit viel Scham verbunden ist, macht die Behandlung in Gruppen mit Betroffenen Sinn: zunächst einmal unter Mitleidenden und Gleichgesinnten sich öffnen.
Wenn die Essstörung einen inneren Anteil repräsentiert, der dem Betreffenden auf verquere Weise versucht zu helfen, sollten wir uns bemühen, diesen Anteil zu entlasten, indem sich der Patient selbst im Leben besser helfen kann. Wir unterstützen unsere Patienten, wenn wir ihren Glauben an sich selbst, dem Leben mehr Lebensqualität zu geben, durch viele kleine Erfolge und Fortschritte stärken, gerade in der Kontakt-, Konflikt- und Beziehungsgestaltung.
Die Essstörung raubt Lebensqualität, sie „stört“ das Leben. Das Gegenteil von gestört ist aber nicht normal, sondern ungestört oder realistischer: weniger gestört. Wenn Patientinnen unter der Störung bzw. dem damit verbundenen Stress leiden und die Störung als solche anerkennen, kann man ihnen helfen, weniger gestört zu werden. Umgekehrt gilt, und zwar nicht exklusiv für Essstörungen: Wenn kein Leidensdruck empfunden wird und dementsprechend keine Veränderungsmotivation besteht, macht Psychotherapie keinen Sinn. Unsere Sichtweise müssen wir dennoch „anbieten“ 🙂
Es soll niemand glauben dürfen, dass lang anhaltendes starkes Unter- oder Übergewicht irgendwie gesund wäre: Das Risiko für medizinische Komplikationen und körperliche Gebrechen ist drastisch erhöht und die statistische Lebenserwartung drastisch reduziert. Empfinden Sie diese Aussage als „Angst-machend“? Wir sollten Angst haben vor dem, was beängstigend ist, damit wir uns den Problemen stellen. Und natürlich auch das Mitgefühl bereitstellen, was es bei der Ohnmacht und dem phasenweise empfundenen Unvermögen, etwas zu ändern, benötigt!