K wie inneres Kind (Teil 1)

Die „Arbeit mit dem inneren Kind“ ist eine Art Mode geworden. Daran ist zunächst nichts verkehrt, mir gefällt die Mode. Allerdings verstellt sie den Blick dafür, was es sonst noch an Therapie- und Selbsthilfe-Optionen gibt. Außerdem umfasst diese Arbeit viele verschiedene Varianten, und nicht alle sind für jede(n) Patient*in geeignet. Vielleicht sollten auch Sie sich bei dieser Arbeit begleiten lassen, um sich nicht zu überfordern.

Einen großen Anteil an der gegenwärtigen Popularität des inneren Kindes hat das Buch von Stefanie Stahl: „Das Kind in dir muss Heimat finden“: gut lesbar, laienverständlich, entwicklungspsychologisch schlau und verhaltenstherapeutisch sinnvoll aufgebaut. Es enthält ein wahres Arbeitsprogramm: wie wir unsere erworbenen Glaubenssätze prüfen und verändern können und welche tagtäglichen Übungen uns weiterhelfen auf dem Weg mit unserem inneren Kind. Allerdings ist der Ansatz, dabei ein „Schattenkind“ und ein „Sonnenkind“ zu unterscheiden speziell und therapeutisch für manche Klienten etwas heikel, weil polares Denken den Heilungsprozess nicht unbedingt fördert.

Unter „Arbeit mit dem inneren Kind“ kann man wirklich alles Mögliche verstehen – zumal es sie schon gab, bevor sie so hieß. Das Kind in uns war selbstverständlich in der Psychotherapie schon immer präsent! Zwei oder drei Missverständnisse möchte ich an dieser Stelle aufklären:

  • Mir fällt immer wieder auf, dass sich Klienten mit einem einzigen inneren Kind, also einer ganz bestimmten Kindheitsphase identifizieren und meinen, dies, und nur dies, sei der oder die „Kleine“.
  • Die liebevolle Zuwendung, Hege und Pflege dieses Kindes kann aber auch zur Stagnation in der Therapie führen – und dabei ist häufig jenes innere Kind, das viel mehr Probleme bereitet und viel mehr einer Rettung bedarf (weil z.B. die sehr früh erlernte vernichtende Scham den Erwachsenen nach wie vor beherrscht), gar nicht zugänglich, etwa weil es aus noch früheren Phasen stammt.
  • Verwandt damit ist das Missverständnis, dass der bloße Rückfall in ein Kindheitserleben oder -verhalten (die sog. Regression) an sich schon therapie- oder heilungsfördernd wäre.

Wenn ich einen Hoody (Kapuzenpullover hieß es früher) anziehe, gerade wenn es mir an einem Sommerabend kühl geworden ist, schmiege ich mich manchmal in das Textil hinein, als handele es sich um jenes hellblaue Kapuzenbademäntelchen, das ich als Kind angezogen bekam, wenn ich im Schwimmbad ziemlich durchgefroren aus dem Wasser kam. Diese Vorstellung tut mir gut, aber ich würde heute kein solches Bademäntelchen tragen, es sei denn für eine therapeutische Inszenierung, ein Rollenspiel.

Ein anderes Beispiel: Meine Vermieterin Karola gibt mir öfters morgens, wenn ich aus dem Haus gehe, ein Glas mit Joghurt und eigenen Himbeeren oder auch eine Dose voller selbstgebackenem Kuchen mit zur Arbeit. Das hat schon etwas davon, dass mein Kindergarten-Täschlein oder mein Schulranzen gefüllt wird, zumal sie es für ihre Kinder genau so gemacht hat (und ich es auch so kenne). Ich kann und darf diese partielle oder bewusste Regression genießen, wenn ich ansonsten erwachsen bleibe.

Therapie bedeutet oft „nachnähren“, nicht nur mit Leckereien, sondern mit Zuwendung und Liebe, bedeutet aber immer auch nachreifen und dabei noch mehr erwachsen werden: das innere Kind an die Hand nehmen! Der Erwachsene lernt, selbst für seine kindlichen Anteile zu sorgen, speziell für die damals nicht ausreichend befriedigten und daher in gewisser Weise unstillbaren (früh)kindlichen Bedürfnisse. Um im Beispiel zu bleiben: Falls ich nie ein solches Bademäntelchen gehabt haben sollte, kann es höchste Zeit sein, mir etwas in der Art zu besorgen und versuchen, die damit verbundene Zuwendung zu erleben.

Zur sinnvollen Regression können auch vorübergehende „Rückfälle“ in Wut und Trauer gehören. Doch eine dauerhafte Regression hätte nichts mit innere-Kind-Arbeit zu tun, genauso wenig wie wenn Patientinnen therapeutisch kontraproduktive Verhaltensweisen damit begründen, dass ihre Kleine das gerade gefordert habe. Regression führt vielmehr, gerade vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen (aber nicht nur dort), schnell zum Rückfall in Opferrollen, zu Ohnmachtskultur und Hilflosigkeit.

Etwas überspitzt, aber dadurch gut erinnerbar hat dies ein Chefarzt einmal so formuliert: „Ich möchte nicht, dass ein abreisender Patient bei der Entlassung einen Schnuller im Mund hat.“ Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die therapeutische Beobachtung, dass Klientinnen, deren inneres Kind– von außen betrachtet – sie nahezu beherrscht, die sich z.B. bei mehr oder weniger banalen Anlässen trotzig, fordernd oder verletzt wie kleine Kinder aufführen, manchmal in der therapeutischen Arbeit gar keinen Zugang zum inneren Kind bekommen. Das „Homecoming“ (die Heimkehr des Kindes) wird in dem Fall vom Kind selbst blockiert, sagt John Bradshaw, ein etwas in Vergessenheit geratener Pionier.

Bradshaw (1933-2016) hatte am eigenen Leib erlebt, wie schwierig eine Kindheit mit einem alkoholkranken Vater und ohne bedingungslose Liebe ist: „Wie alle Kinder aus Alkoholikerfamilien war ich seelisch vernachlässigt worden. Für ein Kind ist das Alleingelassenwerden gleichbedeutend mit dem Tod.“ Nach eigenen Phasen der Überangepasstheit, der Grandiosität und auch des Alkoholismus, hat er als Theologe, Philosoph, Psychologe und Familientherapeut in den 1980er Jahren „Das Kind in uns“ (so der deutsche Buchtitel) mitentdeckt.

Es ist berührend, wie zärtlich Bradshaw das kindliche Wesen beschreibt, seine Neugier, seinen Optimismus, den Spieldrang, die Kreativität und die natürliche Spiritualität (siehe dazu die Fußnote*), aber auch seine Abhängigkeit, seine Naivität, seinen Hang zum magischen Denken. Dabei bietet er für viele Probleme des Erwachsenen einfache Erklärungen: Das Kind brauche bedingungslose Liebe, nicht geliebt zu werden (und nicht lieben zu „dürfen“) sei das schlimmste Trauma. Es zerstöre das Urgefühl des Kindes, eine göttliche Natur zu haben und mit allem verbunden zu sein. An die Stelle dieser natürlichen Spiritualität tritt dann das, was Bradshaw schon in den 1980er Jahren als „toxische Scham“ bezeichnet: ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl (verkehrt zu sein).

Das Kind muss sich in einem Gesicht spiegeln können – das ist ein ganz natürliches und gesundes „narzisstisches“ Bedürfnis. Kinder, die narzisstisch zu kurz gekommen sind, haben noch als Erwachsene einen „unstillbaren Hunger nach Liebe, Beachtung und Zuneigung“. Sie können diese Bedürfnisse nicht befriedigen und nicht befriedigt bekommen (obwohl es sich vielleicht vorübergehend so anfühlt), weil es die Bedürfnisse des Kleinen sind. In allen Beziehungen erleben sie ständig Enttäuschungen und sie können in jeder Hinsicht süchtig werden (weil Sucht scheinbar die Leere ausfüllt).

Um dieses Drama zu beenden, müssen wir für das Kind den Verlust, die Verzweiflung betrauern oder noch deutlicher: den Urschmerz zulassen, und ihm dabei zu versichern, dass wir es mit seiner pathologischen Scham (nicht gut genug zu sein) nie allein lassen werden. Das Kind traut sich nur „raus“ bzw. zu erscheinen, wenn es uns vertrauen kann.

Praktisch-therapeutisch arbeitete Bradshaw mit Meditationen, Phantasiereisen, Ritualen (im Arm halten oder halten lassen) und verschiedenen Briefen, z.B. des inneren Kindes an das erwachsene Ich und umgekehrt. Einige der meditativ und ritualartig eingesetzten Texte lassen sich auch heute noch wunderbar in die Therapie bzw. die innere-Kind-Arbeit einbauen (siehe Textende). Er war der Meinung, das Kind zu retten ist möglich, wenn wir Schritt für Schritt in der Meditation bzw. Phantasie alle Phasen der Entwicklung (Säugling, Kleinkind, Vorschulkind, Schulkind) nochmals durchlaufen, „die unerledigten Angelegenheiten zu Ende bringen“, indem nun der erwachsene Anteil als liebevoller Zauberer zur Seite steht.

Wenn wir das Kind in uns „unter die Fittiche genommen haben“, werde es uns auch gelingen, Menschen zu finden, die und das geben, was wir brauchen, sogar in gewisser Weise das, was der oder die Kleine damals gebraucht haben – aber wir müssen zuerst selbst für es sorgen, damit nicht „das unreife, emotional ausgehungerte Kind weiter unser Leben bestimmt“. Diese innere-Kind-Arbeit ist äußerst schmerzhaft und an verschiedene Voraussetzungen gebunden, u.a. dass kein aktueller Substanzmissbrauch stattfindet, man müsse mindestens schon ein Jahr „trocken“ sein, sonst könnte man von den Kindheitserlebnissen erneut überwältigt werden. 

Im zweiten Teil des Beitrags geht es um die Grenzen – vor allem der selbständigen – Arbeit mit dem inneren Kind.

Extra: Die Zusicherungen für das Kind in uns (nach John Bradshaw)

Willkommen auf der Welt, Ich habe auf Dich gewartet.
Ich bin so froh, dass Du hier bist.
Ich mag Dich so wie Du bist.
Ich werde Dich nie verlassen, ganz gleich was geschieht.
Ich finde, dass Deine Bedürfnisse berechtigt sind.
Ich lasse Dir so viel Zeit, wie Du brauchst, um Deine Bedürfnisse zu befriedigen.
Ich bin so froh, dass Du ein Mädchen/ein Junge bist.
Ich werde mich um Dich kümmern.
Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der so ist wie Du.
Als Du auf die Welt gekommen bist, hat die Schöpfung gelächelt.

Der Text kann individuell ergänzt und verändert werden. J. Bradshaw schlug vor, ihn aufzunehmen (damals auf Tonkassette) und in regelmäßige Meditationen einzubauen.

John Bradshaw: Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst, München 1994 (im Original: „Homecoming“)

* Fußnote zur kindlichen Spiritualität: Es gibt spirituelle Lehrer, die den frühkindlichen Zustand des Einssein nicht als spirituell sehen. Das Kleinkind habe weder Ego noch Bewusstsein, und was es nicht hat, kann es auch nicht transzendieren (so in etwa bei Ken Wilber oder Willigis Jäger). Aus dieser Perspektive wäre der Versuch, mittels Spiritualität in jenen kindlichen Zustand zu gelangen, gewissermaßen regressiv. Ich meine allerdings, dass man es nicht zwingend so gegensätzlich verstehen muss, sondern auch komplementär sehen kann: Sicher ist das innere Kind nicht gleichbedeutend mit dem höheren Selbst – aber die Sehnsucht nach dem Alleinen hat energetisch oder psychologisch auch mit dem unbewussten „Kennen“ und Wiedererkennen des göttlichen Zustands als Kind zu tun, und dieser darf bei der spirituellen Suche auch aktiviert werden bzw. wird es sowieso. Nicht von ungefähr bezeichnet das Christentum Gott als Vater. Als Vergleich: Wir sprechen in Meditation und Achtsamkeit auch vom Anfängergeist, obwohl wir keine Anfänger sind, aber dieses Gefühl der frischen Entdeckung oder Erweckung, als ob wir Anfänger wären, Teil der Erfahrung ist.