Was uns der Koalitionsvertrag über die Zukunft verrät
Kaum einen Monat nach Verabschiedung spricht niemand mehr vom Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP. „Lohnt sich nicht!“ Koalitionsverträge werden von Journalisten gewohnheitsmäßig bald nach Erscheinen in Ablagen versenkt oder auf Wiedervorlage gelegt – in der Gewissheit, dass vieles davon schnell Makulatur wird und man es irgendwann wieder hervorholen kann, um zu zeigen, was alles nicht umgesetzt wurde. Sagen wir es rundheraus: Diesmal wäre ich froh, es würde manches nicht umgesetzt von dem, was uns da unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ versprochen wird.
(Ein paar Quellen bzw. Verweise finden Sie am Ende von Teil 2.)
Die Koalition bezeichnet sich im Untertitel des Vertrags als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Für jede der beteiligten Parteien wurde ein Begriff reserviert, die FDP durfte dabei an erster Stelle stehen. Neues Leben für den politischen Liberalismus? Das direkte Gegenteil ist der Fall. Freiheit klingt so schön in Zeiten, wo Freiheiten eingeschränkt werden wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Welche Freiheit aber im Koalitionsvertrag gemeint sein könnte, kann man durch Wortsuche nicht finden, da „Freiheit“ dort vor allem in viel- oder nichtssagenden Formeln wie „Frieden, Freiheit, Menschenrechte“ auftaucht.
Es ist die Freiheit des Neoliberalismus. Damit jedoch das Offensichtliche dieses Programms nicht zu aggressiv erscheint, haben die Koalitionäre vor die „Wettbewerbsfähigkeit“ den fröhlicher klingenden Begriff der „Innovation“ gesetzt. Sie führt sämtliche Fortschrittsformeln des Vertrags stets an. Möchten Sie einmal reinhören in diese Zukunftsmusik?
„Wir wollen mehr Innovation, mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Effizienz, gute Arbeit und klimaneutralen Wohlstand. … Wir machen Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität, zum Innovationsstandort für autonomes Fahren und beschleunigen massiv den Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur.“ Es geht also zum Beispiel nicht darum, ein Vorreiter in Sachen innovativer ökologischer Verkehrskonzepte zu werden, sondern darum, der Autoindustrie neues Leben einzuhauchen. Ist das alter Wein in neuen Schläuchen oder neuer Wein in alten Schläuchen? Jedenfalls gilt die Devise „bloß kein Geiz“, der Staat darf durchaus fördern, selbst die FDP will beim Geldausgeben klotzen statt kleckern, und die Grünen sorgen irgendwie für Nachhaltigkeit dabei: So will die Koalition auch bei der Luft- und Raumfahrt den Standort Deutschland stärken. Christkindl-konform träumt man, Achtung: kein Witz, vom „klimaneutralen Fliegen“. Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Oder: Manchmal lachen wir, um nicht in Weinen auszubrechen.
Das TINA-Prinzip reloaded, rückstandsfrei und nachhaltig
Der Begriff „Wachstum“ taucht im Koalitionsvertrag nur neunmal auf, sonst wäre es vielleicht aufgefallen, dass mit „nachhaltigem“ Wachstum absolut nichts Ökologisches gemeint ist, sondern schlicht: andauerndes, gigantisches Wachstum. Etwa die 12-15% jährlich, die in der Pharmaindustrie das Maß aller Dinge sind? Was häufiger auftaucht: mehr als 40-mal Standort, rund 50-mal Innovation und über 60-mal der große Segen für die Menschheit: die Digitalisierung.
Das frühere Zauber- und spätere Angstwort „Globalisierung“ hat es nur einmal in den Vertrag geschafft, aber prominent: „Unseren Wohlstand in der Globalisierung zu sichern ist nur möglich, wenn wir wirtschaftlich und technologisch weiter in der Spitzenliga spielen und die Innovationskräfte unserer Wirtschaft entfalten.“ Was ist daran so besonders? Was ist daran so besonders, dass wir uns einerseits als Weltenretter bei Klima und Co aufspielen und andererseits die Zementierung der „Ligen“ in Kauf nehmen! There Is No Alternative – das TINA-Prinzip reloaded. Was ist so besonders daran, dass wir uns als so nachhaltig verantwortungsbewusst gerieren und den Terror der Ökonomie mit „Lust auf Zukunft“ begrüßen? Maggie Thatcher war ehrlicher, doch die Nachfolger sind möglicherweise viel gefährlicher.
Vielleicht gibt es zum entfesselten technokratischen Kapitalismus keine Alternative. Die Unterwerfung unter dieses sich selbst beschleunigende, alles umpflügende Schaufelrad als „Mehr Fortschritt wagen“ zu betiteln, verrät uns, dass die fröhlichen Antreiber zumindest größtenteils gehetzte Getriebene sind. Die Koalitionäre bemühen an einigen Stellen explizit, an anderen sinngemäß das gemütliche Bild der sozialen Marktwirtschaft, die selbstredend nun „sozialökologische Marktwirtschaft“ heißt. In der Tat werden Signale gesetzt, dass man vorhat, die brutale Modernisierung mit digitalen Mitteln irgendwie durch Bürgergeld & Co. sozial abzufedern. Man möchte gleichzeitig neoliberal und neosozialistisch sein. Und irgendwie läuft beides aufs Gleiche hinaus: Fortschritt.
Wir wollen den Rheinischen Kapitalismus hier nicht verklären, da war definitiv nicht alles gold, was schwarzrotgold glänzte. Eine Ökonomie der Genügsamkeit, Unternehmen, die zufrieden sind mit schwarzen Zahlen und darauf hinarbeiten, dass das kommende Jahr wieder ein gutes wird, die gab es für den Großteil dieser „Marktwirtschaft“ schon länger nicht mehr. Doch dass die Ampel das Prinzip „Wachsen oder Weichen“ nachhaltig verklärt, das verrät viel über das neue Zeitalter.
Die Spitzenliga braucht keine Menschen, sondern Fortschrittlinge
Verrücktheit und Normalität sind bisweilen das Gleiche: Diese Regierung vertritt schließlich die Mehrheit der Bevölkerung, nicht nur mit der gewählten Parlamentsmehrheit im Rücken, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft ebenfalls alles tut, um die dunklen Seiten dieses Fortschrittsweges zu verdrängen. Das Volk hat gewählt und es hat die Regierung, die es wollte: Es soll bitte, bitte so weitergehen. Oder auch: Alles soll wieder gut werden. An diesem Punkt könnte Therapie beginnen – mit der Einsicht, dass dies heute keine sinnvollen Ziele mehr sein können. Aber die Deutschland AG und ihre Führungskräfte wollen nicht in Therapie. Sie klammern sich an ihren Glauben vom Fortschritt. Selten wurde ein zwanghafter Tunnelblick derart zur Erleuchtung verklärt.
Sicher, wer kritisiert, hat es oft leichter als die, die etwas tun (wollen). Zweifellos, ein Koalitionsvertrag kann kein Manifest von Bedenkenträgern sein. Und gute Laune oder Optimismus – der Koalitionsvertrag spricht von „Lust auf Neues“: das sollten wir nicht voreilig zur Störung erklären! Doch es klingt streckenweise wirklich, als hätten die Ampelaushandler „irgendwas genommen“, die Rosa Brille der Koalitionäre wirkt deutlich mehr nach Manie als nach Vernunft. Es ist dieses fanatische Schwadronieren von Chancen und Erfolgen, dem man gelegentlich bei Unternehmern und Managern begegnet. Es brauchte vermutlich schon immer solche „Typen“, damit Neues überhaupt realisiert wird. Wir brauchen sie, denn mit meiner ganz persönlichen Fortschrittsphilosophie würden wir möglicherweise immer noch auf den Bäumen sitzen. Doch gefährlich wird es schon, wenn die manischen Macher all ihre Visionen für Realität halten, wenn es keine Checks and Balances mehr gibt – und wenn sie vor den dunklen Seiten des Lebens und ihren eigenen tiefsitzenden Ängsten davonlaufen, indem sie noch mehr visionieren und schwadronieren.
Die Koalitionäre wollen keine dunklen Seiten wahrnehmen, es ist ein zwanghaftes Wegschauen, eine erschreckende Realitätsverleugnung. Manchmal liest sich das, als würde noch in dieser Legislaturperiode das Perpetuum mobile erfunden, ganz und gar klimaneutral und rückstandsfrei. Wenn ich mir den entsprechenden psychologischen Test-Fragebogen, die deutsche Fassung des „Mood Disorder Questionaire“ ansehe, würde ich behaupten, ein Großteil der Akteure dieser Regierung erreicht eine bedenklich hohe Punktzahl für Manie.
Apropos rückstandsfrei: Im Fortschrittsfanatismus 4.0 ist für Rückständiges – und für Rückständige – kein Platz mehr. Es braucht keine Menschen, sondern Fortschrittlinge. Man sieht es derzeit beim Impfen: Ungeimpfte werden zu Verrückten im Universum der „Rationalität“. Viele derer, die schon länger im Verdacht standen, rückständig zu sein, Homöopathen, Anthroposophen, Heilpraktiker und Ganzheitsmediziner aller Art, haben sich in Corona-Zeiten lange weggeduckt oder sogar lautstarke Bekenntnisse für diesen Fortschritt von sich gegeben, um nicht ins Rampenlicht gezerrt und an den Pranger gestellt zu werden. Diese halbe Unterwerfung wird ihnen nichts nützen, denn hier wird die ganze gefordert. Fragen Sie bei der „Deutsche Homöopathie Union“ alias DHU (es ist nur der einst schicke Name für ein Pharmaunternehmen) nach, wie es funktioniert.
Ein Begriff oder Gedanke wie „Therapiefreiheit“ ist dem Koalitionsmanifest so fremd wie früher dem wissenschaftlichen Sozialismus: Wozu brauchen wir mündige Patienten und Therapeuten, wenn wir wissen, was für Euch gut und richtig ist – das wissenschaftlich Erwiesene! So wissenschaftlich erwiesen wie die 95%-ige Schutzwirkung der Covid-Impfung oder die „Herdenimmunität“, die bei einem Kampagnenstand von 60 oder 70% Geimpften eintreten sollte? Vielleicht ist die massive Delegitimierung von Ganzheitsmedizin und Naturheilkunde einer der vielen geheimen Kollateralnutzen der gegenwärtigen Impfkampagne: Nichts ist so ohnmächtig wie eine Idee, deren Zeit abgelaufen zu sein scheint. Oder Menschen, die einfach nur rückständig sind. Das haben sogenannte „Homöopathie-Skeptiker“ in 10 bis 20 Jahren Kampagne mit allen Tricks nicht geschafft. Menschliche Medizin – wie bitte?
Wo sind überhaupt die Menschen in dieser Maschine? Human – ein Treffer, nämlich: „Human-Biomonitoring“. Wo ist die Balance? „Das Dokument wurde durchsucht. Kein Treffer.“ Wo ist die Natur? Es gibt Umwelt- und Naturschutz, aber keine Natur. Der „Wald“ kommt nur im Kontext eines „gezielten Waldumbaus“ für robuste Sorten vor. Tradition taucht viermal auf: zweimal im Sinne von Parteitradition, und zweimal im Kontext von traditionellen und nicht-traditionellen Geschäftsmodellen oder Arbeitsbeziehungen. Selbstredend will die Koalition auch an dieser Stelle für Fairness sorgen. Ach ja, Sorge – kommt nicht vor, es sei denn in der Form „wir sorgen für“ mehr Tempo, weniger Fortschrittsfesseln. Verlierer – ebenfalls kein Treffer – gibt es natürlich nicht in diesem großartigen Zukunftsspiel der Spitzenliga.
Mensch und Menschlichkeit werden antiquiert, und tauchen daher im Manifest der Ampel auch nicht auf – oder nur in zusammengesetzten Begriffen wie „Menschenrechte“, da geht es natürlich um andere Länder um nicht zu sagen Schurkenstaaten, oder „menschliche Gesundheit“. Günther Anders, von dem die Theorie der zunehmenden Antiquiertheit des Menschen stammt, hat in seinen späten Jahren, offenbar ohnmächtig und verzweifelt wie auch heute viele „Rückständige“, allen Ernstes zum Terrorismus aufgerufen. Das ist eine mögliche Konsequenz und erschreckende Perspektive: Nicht nur die fröhlich Herrschenden kennen „keine rote Linien mehr“ (Kanzler Scholz), sondern auch auf der anderen Seite der Spaltung wächst die Bereitschaft, absolute Tabus in Frage zu stellen. Wie gut, dass es den Verfassungsschutz gibt. (Das war jetzt meine Ironie, nicht die Ironie der Geschichte.)
In Teil 2 erfahren Sie, warum es mit dem Impfen immer so weitergehen muss – oder warum eine sich liberal nennende Partei ihr letztes Tafelsilber zum Fenster hinauswirft. Außerdem Quellenhinweise.