F wie Fortschritt (Teil 2)

Die Lehren aus der Pandemie ziehen

In Teil 1 unserer Analyse des Koalitionsvertrags haben wir gezeigt, welche Zukunft uns versprochen wird: die Entfesselung des Turbokapitalismus nach altbekannter Standortlogik, jedoch mit neuen digitalen Mitteln. Hier erfahren Sie nun, warum es mit dem Impfen immer weitergehen muss und wie eine sich liberal nennende Partei ihr letztes Tafelsilber zum Fenster hinauswirft.

Der Koalitionsvertrag verrät viel durch das, was er sagt, und genauso viel durch das, was er verschweigt. „Gefahren“ gibt es lediglich beim Klima und im Straßenverkehr, wenn junge Leute rasen. „Risiken“ kennt man bei der „Ampel“ nur im Finanzmarktsektor. In dieser Koalition kann sich offenbar niemand vorstellen, dass der Name Biontech dereinst einen Klang wie Wirecard haben könnte. Das wird auch nicht passieren, denn egal wie erschütternd gering sich Nutzen und Wirksamkeit der Impfung und der Impfkampagne erweisen sollten, selbst wenn es sich um den größten Flop der Impfgeschichte handelt, egal auch welche uneinlösbaren Versprechungen und Wechsel auf die Zukunft ausgestellt wurden, der Skandal wird gar nicht auffliegen können: Der wirtschaftliche und der wirtschaftspolitische, um nicht zu sagen der „nachhaltige“ Nutzen der Kampagne bleiben ja! Viel zu viele prominente Akteure – im übertragenen Sinne – haben in diese Aktien und Wechsel investiert. Too Big Too Fail.

Das Corona- und Impfthema ist ein oder vielleicht „das“ Exempel für die zukünftige Politik. Die Koalitionäre versprechen, Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen, verraten aber nicht welche. Von 15-mal „Corona“ im Vertrag handeln zwei vom neuen Krisenstab und zwölf Nennungen beziehen sich auf wirtschaftliche Folgen „der Pandemie“, natürlich nicht auf Folgen des deutschen Pandemiemanagements, etwa im Vergleich zur schwedischen, dezidiert liberalen Politik.

Wer einen General an die Spitze seines Corona-Krisenstabs stellt, hat eine spezielle Form von Liberalismus im Sinn. Wir sind in Deutschland. Autorität zählt. Nicht von ungefähr sind die „Staatsbürger in Uniform“ noch von der Vorgängerregierung ohne viel Aufhebens als erste Berufsgruppe der Corona-Impfpflicht unterstellt worden. Für weltweit einsatzfähige, kampfbereite Soldaten ist das wirklich nur ein kleiner „Piks“. Da reicht es noch nicht einmal zum Standardspruch, mit dem sonst gerne alle Arten von Diskriminierung und Missbrauch vernebelt werden: „Nun, stell Dich mal nicht so an!“

Dass Freiheit, die in Formeln und Floskeln immer mal angeführt wird, zu Coronazeiten erheblich unter Druck geraten ist und beschränkt wurde, davon findet man nichts. Vielleicht denken sich die Koalitionäre: Das wird schon wieder. Warum nicht auch in diesem Punkt unbegrenzt naiv sein! Diese Akteure haben nicht nur keine Alternative zum zwanghaften Neoliberalismus, sie haben auch nullkommanull Alternativen zum bisherigen Pandemiemanagement.

Sie wollen die Chancen für Biontech & Co nutzen – Mainz ist wohl die einzige Stadt, die es außer Berlin und Bonn in den Koalitionsvertrag geschafft hat – und ansonsten soll der General an der Spitze des Krisenstabs die „gegenwärtig vordringliche Aufgabe“ lösen. Sie haben keinerlei Plan, falls die Sache mit dem Impfen nicht funktioniert. Augen zu und durch. Und noch mehr Impfen. Dazu reicht es nicht, dass auch die FDP die Ärmel zum Piks hochkrempelt, sie muss gleich die ganze tote Hose des deutschen Liberalismus runterlassen und sich an der Vorbereitung der allgemeinen Impfpflicht beteiligen. There is no alternative. Oder im Koalitionsdeutsch:

„Die Entwicklung eines erfolgreichen Impfstoffes gegen SarsCoV2 in Deutschland zeigt: Wir können unser Innovationspotenzial heben … Deutschland hat die Chance, zum international führenden Biotechnologie-Standort zu werden. Durch den ersten mRNA-Impfstoff aus Mainz hat unser Land weltweite Sichtbarkeit erlangt. Damit ist eine Leitfunktion für die wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der Biotechnologie verbunden.“  

Die Impfkampagne – ein Wintermärchen (oder Alptraum)

„Wir … ziehen Lehren aus der Pandemie, die uns die Verletzlichkeit unseres Gesundheitswesens vor Augen geführt hat.“ Eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt ist so verletzlich, wieso – das bleibt ein Rätsel. Hat es vielleicht mit Profitstreben und Prioritäten zu tun? Bei den Lösungen klingt es dann auf einmal ganz bieder und bürokratisch: Die Koalition will durch „Maßnahmen zur Fachkräftesicherung dem Personalmangel im Gesundheitswesen entgegenwirken“. Die erste dieser Maßnahmen war ein Berufsverbot für Ungeimpfte!

Die Ampel hat geliefert. Es passiert, was abzusehen war: Ein Teil des Personals läuft weg oder droht damit. Die Träger und Verbände der Pflegeeinrichtungen schreiben einen Brandbrief an Politiker, dass es so nicht funktioniert – und fordern die allgemeine Impfpflicht, damit ihre Beschäftigten nicht in anderen Sektoren ausweichen können. „Sozialverbände“ heißen die. Das ist die Logik: Je mehr sich der Impfschutz als übertriebenes bis haltloses Versprechen herausstellt, desto mehr müssen die, die nicht mitmachen wollen, gezwungen werden, mit allen Mitteln.

Die nebulös-fortschrittsduselige Sprache des Koalitionsvertrags hat ihre Entsprechung in der Impfpropaganda. Die Impfung wirkt nicht oder nur minimal bei Omikron. Und was reden unsere Politiker, was schreiben unsere Journalisten: „Die Omikron-Variante umgeht den Impfschutz.“ Fällt ihnen etwas auf? Als wäre diese eine Variante so ein ganz schlaues Wesen, das sich überlegt, welche Route sie wählt, um den „Impfschutz“ zu umgehen. Geht’s noch naiver? Bei 1000en von Corona-Varianten gibt es wahrscheinlich viele solche Schlaumeier. Das habe ich übrigens schon vor bald einem Jahr vorhergesagt und wurde heftig kritisiert. Ich bin weder Experte noch Hellseher. Ich meine nur, es wäre ehrlich (!)zu sagen: „Wir können mit Impfungen keinen umfassenden Schutz garantieren, egal wie viel sich impfen lassen, oder dazu gezwungen werden.“ Aber die Leute, die immer weiter solche leeren Versprechen machen („wenn sich nur alle impfen ließen…“) ,haben offenbar kein Glaubwürdigkeitsproblem. Weil der Mainstream nicht irren kann?

„Das Robert Koch-Institut soll in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.“ Völlig verloren, isoliert und nahezu deplatziert steht dieser Satz inmitten der blühenden Zukunftslandschaften. Irgendwie sind die Autoren den Textbaustein nicht losgeworden. Leider kann er nicht wirklich beruhigen, denn zu den Lehren aus der Pandemie zählt für die Ampel die Erkenntnis, dass die neue Regierung an kritischen Daten oder Einsichten so wenig Interesse hat wie die alte. Die viel beschworene Freiheit von Wissenschaft und Forschung ist dem Primat der Wirtschaftspolitik untergeordnet. Deshalb fühlen sich Microsoft und Pfizer so pudelwohl als Sponsoren auf dem SPD-Parteitag. Da klingelt das Kanzler-Wort, es gäbe „keine rote Linien mehr“, zweimal im Ohr bzw. in der Kasse. Der Genosse Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat sowieso schon immer das Hohelied der Pharmaindustrie gesungen, egal, wie abstrus es klang und wie oft er daneben lag. Was stört mich mein Geschwätz von gestern? Offenbar stört sich auch sonst niemand mehr daran in dieser Partei.

Immer wieder ist im Vertrag von Evaluation die Rede oder davon, dass diese oder jene Kommission irgendetwas prüft – aber nicht beim Thema Corona oder Impfen. Denn Sie wissen, was sie tun, aber Sie wollen nicht, dass wir es wissen: Freiheit für „unsere“ Biotechnologie statt Freiheit für unsere Bürger. Und wer sich „unserem“ Fortschritt in den Weg stellt, wird aus dem Weg geräumt. So nützlich ist die Pandemie für die pandemischen Wellenreiter.

Liberalismus 4.0: Wir definieren Freiheit neu

Wer kiffen will, soll das nach Wunsch der Koalition in Zukunft legal tun dürfen, ganz kontrolliert natürlich, aber gleichzeitig wird das Recht auf gesundheitliche Selbstbestimmung mit der Impfpflicht abgeschafft. Für die Entkriminalisierung von Cannabis gibt es sicher nachvollziehbare Argumente, die Koinzidenz solcher Beschlüsse ist allerdings erschreckend. Vom Respekt gegenüber der Vielfalt an Lebensentwürfen wird gesprochen, aber ein Lebensentwurf ohne Zwangsimpfung, mit dem Recht, selbst über medizinische Eingriffe zu entscheiden, der gehört nicht dazu.

„Jeglicher Diskriminierung wirken wir entgegen.“ Solche Versprechen macht der Koalitionsvertrag wiederholt, wenn es um Senioren, Frauen und geschlechtliche Identität, Rassismus und Flüchtlinge geht. Dabei wird immer wieder gruppenbezogen argumentiert. Dass aber Menschen, die die Entscheidungsfreiheit über medizinische Eingriffe behalten wollen, auch als eine solche Gruppe verstanden werden könnten – die man durch 2G und Lockout für Ungeimpfte als solche geschaffen hat – , das kommt den Koalitionären nicht in den Sinn. Im neuen Jargon von Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit würde es vermutlich so lauten: „Schon mit einem kleinen Piks kannst Du diese Pseudogruppe verlassen und wirst nicht mehr diskriminiert. Also, stell Dich nicht so an und übertreibe bitte nicht so maßlos!“ Pseudo ist aber vor allem ein Liberalismus, der keinerlei Sinn mehr für die Freiheit des Einzelnen hat, wie sie in Artikel 1.1 des Grundgesetztes garantiert wurde: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Der effektivste Werbefeldzug für die AFD

„Rechtsextremismus ist derzeit die größte Bedrohung unserer Demokratie.“ Das möchten die Herrschenden gerne so sehen, und Argumente dafür gibt es in der Tat. Aber dann besteht mindestens die zweitgrößte Bedrohung gegenwärtig darin, wer alles zum Rechtsextremismus gezählt und wer in seine Arme getrieben wird. Unbescholtene und vielfach engagierte Bürger werden zu Staatsfeinden wider Willen gemacht und die große parlamentarische Mehrheit der einst staatstragenden Parteien tut wirklich alles, um mit der Impfkampagne, den Diskriminierungen a la 2G und der verdeckten und offenen Durchsetzung der Impfpflicht, den effektivsten staatsfinanzierten Werbefeldzug für die AFD seit der Flüchtlingskrise zu betreiben. Wir schaffen das – diese Partei so groß zu machen, dass wir mit noch mehr Angst und Spalterei weiterregieren können.

Für „Kritik“ findet sich kein einziger Treffer im Vertrag. Es ist ein Fremdwort dieses Fortschritts. Nirgendwo ist von der Spaltung die Rede, die durch die Gesellschaft geht – weil man sich im Mehrheitsteil dieser gespaltenen Gesellschaft wohl befindet. Stattdessen wird „die Bewahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte“ beschworen. Kein Wort dazu, wie extrem diese Freiheitsrechte eingeschränkt wurden und werden. So viel Realitätsverleugnung war selten. Ein Hauch von Differenzierung hätte dem Koalitionsvertrag an dieser wie an vielen anderen Stellen etwas mehr Seriosität verleihen können. Doch offenbar waren sich die Koalitionäre des Freibriefs aus Karlsruhe für jegliche Corona-Maßnahmen schon im Voraus ganz sicher – so viel zum Vertrauen in unsere Institutionen – und hielten es schlicht für das Beste, einfach so tun, als wäre in Sachen Freiheitsbeschränkung und Diskriminierung gar nicht viel gewesen.

„Vorwärts immer, rückwärts nimmer.“ Nein, das steht nicht im Koalitionsvertrag, das hat vielmehr Erich Honecker 1989 zur 40-Jahr-Feier der DDR hinausposaunt. Aus dem Mund von FDP-Chef Christian Lindner würde es wesentlich glaubhafter klingen. Ihm können wir das Versprechen der totalen Entfesselung der Produktivkräfte viel leichter abnehmen, ihm glauben wir sofort, dass er nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft repräsentiert, und dass es die reine Lust auf Fortschritt ist, die uns in eine schöne neue Welt führt, wo mit Worthülsen der Freiheit jedes Opfer an realen Freiheiten vertuscht wird.

Es mutet wie ein großes Paradoxon an, dass eine Partei namens FDP, die gerade dabei ist, die letzten Reste an liberaler Substanz entschieden wegzuwerfen, offenbar so viel Einfluss auf die Gestaltung des Koalitionsvertrags bekam. Die Auflösung ist einfach: Die anderen Parteien ticken genauso, die hatten in punkto Freiheit schon länger nichts mehr zu „verraten“ außer Restbeständen an Rückständigkeit in den eigenen Reihen, auf den hinteren Rängen und vielleicht in irgendwelchen Ortsvereinen. Das erledigt man mit Lust auf Fortschritt. Wer will schon als rückständig gelten?

Deutschland hat keine liberalen politischen Parteien mehr – und bräuchte sie so dringend! Nicht von ungefähr kommen die meisten und entschiedensten liberalen publizistischen Beiträge in Deutschland mittlerweile von einer Schweizer Zeitung: der NZZ. Sicher sind darin auch andere Stimmen zu hören sind, und selbstredend wird in der NZZ eifrig dem Turbokapitalismus gehuldigt.  Und doch finden sich hier nahezu regelmäßig bemerkenswerte Einwände (wie man sie in großen deutschen Medien vermisst) gegen das offenbar spezifisch deutsche Fortschrittsdenken, diesen atem- weil freiheitsberaubenden Mix aus digitalem Neoliberalismus und preußischem Autoritarismus. Gegen das, was man in Berlin 2021/22 „Mehr Fortschritt wagen“ nennen möchte: Vorwärts in die Vergangenheit! (Ende)

Falls Sie vom ersten Teil etwas nachlesen möchten: F wie Fortschritt (Teil 1)

Quellen und Verweise