Einen Patienten, der eher selten Freude zeigt und, wenn man doch einen Hauch davon bemerkt und ihn darauf anspricht, sofort zu einem trübsinnigen und fatalistischen Kommentar greift, diesen bedauernswerten Menschen fragte ich kürzlich: „Ja, gibt es denn gar nichts, auf das Sie sich freuen?“ Es lohnt sich wirklich öfters so zu fragen! Die Antwort des Patienten: „Doch, ich freue mich fast immer auf die Gruppensitzungen. Das ist wie Fußball spielen.“
Wie Fußball, nur ohne gegnerische Mannschaft. Und ich als Therapeut bin dann der Trainer? Versuche, Patienten zu trainieren fürs Spiel des Lebens? Üben mit Herz und Verstand, immer wieder, in immer neuen Konstellationen und Versuchsanordnungen. Es funktioniert nur,
- wenn wir als Mannschaft spielen
- wenn jede(r) ein Interesse daran hat, dass alle anderen auch das Maximum aus sich herausholen
- wenn wir einander vertrauen,
- wenn wir größere Hindernisse beim Üben sofort wegräumen oder zumindest an die Seite stellen können
- wenn keiner dem andern aus dem Weg geht
- wenn sich keine dauerhaften Grüppchen bilden.
Okay, es gibt Stürmer und Verteidiger, Mittelfeldspieler und Allrounder, aber wir spielen alle mit allen. Und da zeigen sich Unterschiede zum Fußball: Die Mannschaft wird nicht nach Leistungskriterien zusammengestellt. Es gehört zu meinen Aufgaben als Leiter, die Gruppe immer wieder spüren zu lassen, dass alle gleich wichtig sind und alle mit allen spielen (müssen). Fraktionsbildungen können in einem Konflikt, der offengelegt und durchgearbeitet wird, sehr produktiv genutzt werden. Führen sie dagegen zur Vermeidung von Konflikten oder werden aus dem Gruppengeschehen selbst ausgelagert werden (die „Mitglieder“ einer Fraktion treffen sich privat und lästern über andere Gruppenmitglieder), kann dies tödlich für den Gruppenprozess sein.
Mein Job als „Trainer“ ist es, Gefahren für den Gruppenprozess abzuwehren, etwa das Wegbleiben von Teilnehmern – die regelmäßige Teilnahme aller Mitglieder ist Gesetz. In der Klinik sind wir diesbezüglich im Vorteil, da Anwesenheitspflicht besteht, umso wichtiger ist darauf zu achten, dass Patienten sich nicht über körperliche Symptome und ärztliche Befreiungen vor dem Therapieprozess „drücken“, das ist nicht immer leicht zu beurteilen. Etwas weniger dramatisch, aber dafür umso häufiger ist das regelmäßige Zuspätkommen einzelner Teilnehmer (immer derselben), das kann produktiv für den Gruppenprozess genutzt werden, wenn man den oder die Betreffende damit konfrontiert, was es mit andern macht – und dass er diese Reaktionen garantiert auch „draußen“ im wahren Leben produziert.
Ebenso wenig darf ich es zulassen, dass einzelne ausgeschlossen werden, egal, was sie sich „zuschulden“ kommen lassen. Das ist eine hervorragende Gelegenheit, der Gruppe klar zu machen, dass „Schuld“ in der Therapie, zumal in der Gruppentherapie, keine hilfreiche Kategorie ist. Ausgrenzungs- und Schuldenbock-Phänomene sind daher nur dann produktiv für die Gruppentherapie, wenn sie offengelegt, durchschaut und durchgearbeitet werden, sie zeigen uns, wie Projektion und Mobbing funktionieren, wie wir mit dem oder der Ausgegrenzten unsere eigenen ungeliebten Anteile abspalten. Ich bin das Vorbild in Sachen, Konflikte ansprechen und vielleicht sogar zuzuspitzen, statt schnelle (Schein-)Kompromisse zu schließen oder einen Waffenstillstand zuzulassen. Wahrscheinlich wird es nie wieder im Leben des Patienten solche Gelegenheiten geben, die Muster und Mechanismen zu durchschauen und zu durchbrechen: andere „Spielzüge“ einzuüben.
Therapie beinhaltet einen Trainings- und Lernprozess, und dabei ist sehr wichtig, diesen nicht mit Schule zu verwechseln. Ich bin nicht der Lehrer und ich möchte daher nicht, dass Patienten zum braver Schüler werden und mir zuliebe Leistung bringen, sondern eben eher ein Trainer, der analysiert und motiviert, der die Hütchen, um die gedribbelt wird, neu aufstellt und der mit Ihnen versucht zu begreifen, nach welchen heimlichen Regeln Sie spielen: Warum Sie nicht einfach mal ein Tor schießen, wenn das Tor schon sperrangelweit offensteht, oder warum Sie den Jubel der anderen nicht hören, wenn Sie gerade ein Tor gemacht haben.
Ein besonderer Balanceakt ist dieser Umgang mit Lob: Einerseits müssen wir vorsichtig mit Bewertungen sein, um nicht in das Leistungsdenken und Schulübertragungen hineinzugeraten. Patienten sollen nicht dazu angehalten werden, gute Patienten im Sinne von Benotung zu werden. Auf der anderen Seite geht Therapie nicht ohne Belohnung. Irvin Yalom, der „Erfinder“ der modernen Gruppentherapie, kam aus der Tiefenpsychologie, aber in punkto Belohnung nutzt er bewusst den Begriff der „feindlichen“ Schule (d.h. der Verhaltenstherapie) und sagt, ohne „operantes Konditionieren“ funktioniere es nicht. Ja, ich muss z.B. Risikobereitschaft und Offenheit belohnen. Genauso darf ich bei Verhalten, welches für die Gruppentherapie nicht förderlich ist, nicht schweigend wegsehen, sondern muss intervenieren: „Können Sie sich vorstellen, was dies gerade bei den andern auslöst?“
So werde ich nicht zulassen, dass ein Patient überproportional viel Redezeit für heiße Luft beansprucht, ohne sich dabei wirklich zu öffnen, d.h. ich werde nicht zulassen, dass er oder sie Zeit „verquatscht“ (Yalom). Jedes solches störende Verhalten kann ein Anlass sein, die Gruppenkultur zu verbessern und die Produktivität des Gruppenprozesses anzuheben, indem wir z.B. gemeinsam schauen, was an Sicherheit, Vertrauen, Wertschätzung noch fehlt, um sich wirklich zu öffnen, oder warum die individuelle Risiko- und Konfliktbereitschaft zu gering sind.
Für die Teilnehmer bin ich ein Vorbild! Aus der Nummer kann ich mich nicht davonstehlen (auch wenn ich weiß, dass ich dem Anspruch manchmal nicht gerecht werde). Dies betrifft etwa den Umgang mit eigenen Fehlern oder Unsicherheiten – meine Kritik- und Konfliktfähigkeit. Im Klartext: Ich muss es lieben, angegriffen zu werden! Es wäre für die Gruppentherapie tödlich, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Eindruck bekommen könnten, man dürfe alles, bloß nicht den Leiter angreifen. Für viele ist der Konflikt, den sie mit dem Therapeuten riskieren, der erste Schritt in ein ganz neues Verhalten, später werden sie mit Mitpatienten Konflikte riskieren und viel später erst mit ihrem Lebenspartner neues Konfliktverhalten üben.
„Je wichtiger die Gruppe für ihre Mitglieder ist, umso effektiver kann sie ihren Zweck erfüllen.“ Yalom behauptet für die ambulante Gruppe sogar, dass es für die therapeutische Produktivität „ideal“ ist, wenn für alle Mitglieder die Gruppensitzung das wichtigste Ereignis der Woche ist! Darüber kann man streiten – man erkennt daran aber, wie stark die Therapie zumindest phasenweise mit Privatleben, Partnerschaft, Familie, Freundschaften, Job usw. in Konkurrenz tritt und welche Sorgen das möglicherweise bei den auf diese Weise zwar nur indirekt, aber massiv Betroffenen des Umfelds auslösen kann: ihnen wird Bedeutung entzogen. Das kann sich für Angehörige vorübergehend so anfühlen, als ob der Patient statt gesünder immer komischer und egoistischer wird. Damit kommen wir zum dicksten Haken an der Sache mit dem Fußballspiel „Gruppentherapie“:
Am Ende müssen alle außer mir als Trainer raus aus dem Stadion und rein ins wahre Leben. Die Mannschaft ist weg. Im günstigsten Fall haben Sie diese noch im Ohr oder vor dem inneren Auge, fühlen sich imaginär gestärkt. Aber vielen fehlt etwas: die guten Rahmenbedingungen in der Therapie. Und darauf müssen wir Trainer unsere Spielerinnen und Spieler vorbereiten: „Wundern Sie sich nicht, wenn Sie draußen (vorerst) nur Bruchteile Ihres Potenzials abrufen können. Und: „Seien Sie selbst der liebevollste Trainer der Welt für sich!“