S wie Skalierung

Zahlen und Skalen sorgen für (den Anschein von) Objektivität, gerade in der Psychologie (die das immer noch bitter nötig hat). Halt, hier geblieben! Nicht weglaufen! Bei der Skala, über die wir heute schreiben, geht es um Subjektivität: Auf einer Skala von 1 bis 10, wie fühlen Sie sich gerade, wenn 1 für „mies“ und 10 für „super“ steht? Wichtig ist, dass Sie zu sich selbst antworten und ehrlich sind.

In Umfragen geben Deutsche, nach ihrer Lebenszufriedenheit gefragt, im Durchschnitt eine 7 von 10 an, in Ostdeutschland etwas niedriger. Komischerweise entspricht dies überhaupt nicht dem, wie ich die meisten Menschen erlebe. Aber vielleicht denken die meisten, wenn Sie „amtlich“ befragt werden: „Naja, eigentlich geht es mir doch gar nicht schlecht …“ (was ja zumindest im weltweiten Vergleich definitiv stimmt) und geben daher eine freundliche Bewertung ab. Hier und jetzt dürfen Sie mal „uneigentliche“ Ergebnisse ausprobieren.

Wenn Sie diese „Skalierungsfrage“ noch gar nicht kennen sollten, wird es höchste Zeit. Sie stammt aus der systemisch-lösungsorientierten Therapie. Der Zusatz „lösungsorientiert“ hat sich, vereinfacht gesagt, irgendwann als notwendig erwiesen, um zu signalisieren, dass Therapie kein Selbstzweck ist, sondern dem besseren Leben dient. Denn ähnlich wie in die Untiefen der Psychoanalyse können sich Klienten geradezu genussvoll in systemischen Erleuchtungen verlieren, etwa wenn sie im Monatstakt zu Aufstellungen gehen, ohne wirklich ihr Leben zu ändern. So ist’s aber in der Regel nicht gedacht.

Die Skalierungsfrage hat mehrere fundamentale Bedeutungen in der Therapie. Eine davon lautet, dass wir in der Therapie das Schwarz-Weiß-Denken überwinden: weg von den Gegensätzen hell-dunkel, gut-schlecht, schön-hässlich … weg von der lebensfeindlichen Alternative, die da lautet „ganz oder gar nicht“. Mit der Skalierungsfrage verwandeln wir das komplizierte Thema in eine scheinbar einfache Aufgabe, in eine spielerische Übung: Mit welchem Maßstab messe ich meine Therapie und mein Leben? Wie so vieles in der systemischen Therapie kann auch die Skalierungsfrage als „Trick“ bezeichnet werden, wenn man darunter nichts Negatives versteht, sondern einen sinnvollen Kunstgriff.

Wir gehen davon aus, dass der (die) Klient(in) selbst der (die) Expert*in für die Probleme und die nötigen Lösungen ist, aber mögliche Lösungen werden häufigen von Vorstellungen, Bildern und Phantasien verstellt (die dem mangelnden Selbstvertrauen entsprechen). Es geht darum, den eigenen Anteil des Klienten an seiner Lebensqualität bewusster zu machen und das Gefühl für Selbstwirksamkeit zu stärken – denn nur am eigenen Anteil können wir therapeutisch arbeiten. Das klingt banal, wird aber häufig übersehen.

Statt schwarz oder weiß, hop oder top, ja oder nein gilt es, die Skala zu beGREIFEN, wirklich den Regler für Lebensqualität anzufassen, Lebensgefühl und Lebensglück zu finden und daran zu arbeiten, wie der Klient ihn selbst betätigen kann: „Was war ihr Anteil daran, dass sich der Wert in der letzten halben Stunde von 3 auf 3,5 verschoben hat?“ – „Naja, Sie waren so lieb zu mir.“ – „Sie haben es mir ermöglicht, empathisch zu sein, Sie haben mich dazu eingeladen.“ Der Übergang zu authentischen Komplimenten und damit Stärkung der Selbstwirksamkeit funktioniert problemlos.

Die Skalierungsfrage liefert oft verblüffende Antworten und sollte gerade für Therapieanfänger (egal ob Patienten oder Therapeuten) zum festen Bestandteil werden. Ich habe es nicht selten erlebt, dass Klienten bei den vorgeschlagenen Interventionen gut mitmachen und vielleicht fast die ganze Stunde über strahlen – und bei der Skalierungsfrage, wie sie jetzt aus der Stunde gehen, taucht auf einmal lediglich eine „2“ auf. Das könnte z.B. daran liegen, dass Patient:innen meinen, es ginge darum, brav wie ein braver Schüler oder Sohn zu sein (strahlen), und erst bei der Skalierungsfrage wieder zu sich selbst finden. Oder aber, dass ihnen am Ende der Stunde klar wird, dass sie gleich wieder „raus“ ins wahre Leben müssen, was den Wert sofort absacken lässt – und sie würden mich gerne mitnehmen, so dass der Skalierungswert eine Art Hilferuf darstellt.

Umgekehrt kann eine Stunde scheinbar von einer sehr depressiven Grundstimmung gezeichnet sein, sogar suizidale Gedanken tauchen auf – doch auf die Skalierungsfrage, wie die Klientin den restlichen Tag einschätzt, gibt es eine „5“ oder „6“. Vielleicht, weil es so gut getan hat, darüber zu reden, weil sich die Klientin verstanden fühlt. (Natürlich besteht auch hier die Gefahr, dass Patient:innen aus „Bravheit“ einen zu hohen Wert wählen.) Ich setze die Frage gerne am Anfang und Ende von Therapiegruppen ein. Sie hilft der eigenen Klarheit auf die Sprünge – und sie entlastet davon, sich zu viel Sorgen um andere zu machen. Wer am Ende unter „3“ ist, mit dem mache ich im Beisein der Gruppe einen separaten Kurzkontakt aus oder frage, ob er bzw. sie dennoch gut durch den Tag kommt; die große Mehrheit kann man im Bewusstsein der Skalierungswerte sowieso gut gehen lassen.

Auch in der Paarberatung ist die Frage ein zentrales „Tool“, zum einen steigert sie den Spaßfaktor und damit die Neugier, senkt damit die Angst und stärkt das Engagement, zum andern wirkt sie meist auch verbindend, und wenn dies nicht, dann enthüllend. Zuerst stelle ich ein paar Fragen zum Zustand der Partnerschaft, verbunden mit der Skalierungsfrage (Wie bewerten Sie Ihre Kommunikation als Paar? Wie erleben Sie Ihre körperliche Nähe im Alltag? Usw.) – die Partner notieren sich in Stille die Werte. Manchmal schließe ich auch noch Fragen zur Perspektive ein. (Was muss sich unbedingt ändern? Was wollen Sie mit dem Partner heute endlich klären? Was könnte in der begrenzten Zeit für Sie als Paar Gutes passieren? Usw.) und fordere die Klienten auf, hinter diese ebenfalls in Stille notierten Antworten einen Skalierungswert zwischen 1 und 10 für die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert, zu setzen.

Erst dann kommt der eigentliche „Trick“: Die Partner sollen spekulieren, welche Werte der jeweils andere vergeben hat. Da muss man eventuell etwas die Schwellenangst oder Scham reduzieren, aber es hat noch immer geklappt und wurde als bereichernd empfunden. (Die Schwellenangst kann man z.B. reduzieren, indem man verspricht, dass die tatsächlichen Werte nicht oder nur nach Absprache geoutet werden. Generell sage ich immer zu Beginn einer Paarberatung, dass „selbst“ Lebenspartner Geheimnisse voreinander haben dürfen, dass dies gerade in der Beratung manchmal wichtig ist, um mehr herauszubekommen, was jede/r wirklich möchte.)

Die Skalierungsfrage entlastet auch in der Einzelarbeit Klient und Therapeut, weil sie deutlich macht, dass wir weder von einem Riesendurchbruch (Erleuchtung, Komplettheilung etc.) ausgehen, noch einem von uns beiden (Klient/Therapeut) die Verantwortung für dieses Wunder aufhalsen. Besonders entlastend ist sie in der Kombination mit dem Behandlungsziel: „Wenn Sie an Ihr Hauptproblem denken, fühlen Sie sich derzeit bei 2. Nehmen wir an, wir beide würden hier die nächsten Wochen super Arbeit leisten. Mit welchem Wert bei der Entlassung wären Sie zufrieden?“ Ich habe es schon oft erlebt, dass Patient:innen darauf mit einer „4“ antworten. Wir Therapeuten meinen aber manchmal, wir (ausgerechnet wir) müssten „9“ liefern …

Nehmen wir an, die Patientin ist knapp unter 50 Jahre alt und leidet schon mehr als 30 Jahre unter Anorexie, zurzeit steckt sie wieder in einer Phase, wo die Anorexie sie offenbar fest im Griff hat und fast rund um die Uhr beschäftigt. Sie hat schon bessere Phasen erlebt und wäre wirklich vollauf mit einer 4 zufrieden – das kann uns in der Therapie (und auch in der Gruppe, falls es sich um Gruppentherapie handelt) erheblich entlasten und wir können ihren Expert-For-Myself-Status dann maximal nutzen.

Vielleicht haben Sie sich schon gefragt: Warum „1 bis 10“ und nicht „0 bis 10“? 0 bis 10 ginge auch und ist im Einzelfall sogar einfacher. Doch meine Devise lautet meist: „1 ist immer!“ Wer es bis zu mir in die Praxis geschafft hat oder auch in die Klinik auf eigenen Füßen und nicht im Liegendtransport kam, der ist bei 1 und nicht bei 0. Dies zeigt schon eine gewisse Richtung an. Die Therapie hat ein übergeordnetes Ziel: die Selbstwirksamkeit verbessern. Es gibt immer einen eigenen Anteil und nur daran können wir arbeiten. Der Klient hat es bis hierher (räumlich und zeitlich geschafft), das gilt es zu würdigen.  

Was machen wir aber, wenn wirklich „immer 1 ist“? Also wenn der Patient von Sitzung zu Sitzung auf die Frage nach der Befindlichkeit oder nach dem Stand der Entwicklung oder nach der Wahrscheinlichkeit, dass er etwas Vereinbartes auch anpackt, konstant „1“ antwortet? Dann brechen wir die Therapie ab, denn der Betreffende ist in dieser Form nicht therapiefähig. Oder wir stellen diesen Ausgang zumindest einmal bewusst zur Diskussion. Das gibt es selten, zumal wir allein durch die Spiegelung der Opferhaltung und Konfrontation oft ein wenig die Bremse lösen können. Aber es kommt schon vor – z.B. weil der Patient in dieser Phase wirklich (noch) nicht selbstregulationsfähig ist (z.B. in einer akuten Trauerreaktion) oder auch weil sein sog. Krankheitsnutzen zu bedeutend ist (Erwerbsunfähigkeitsrente, Rücksicht vom Lebenspartner, der den Klienten konsequent wie ein Opfer oder Kind behandelt und maximal versorgt); bevor wir uns wochenlang abrackern, ist Abbruch eine für beide gesundheitsschonende Alternative.

Manchmal allerdings handelt es sich bei konstant niedrig gemeldeten Werten eher um ein durch das Therapiesetting selbst geschaffenes Phänomen: Solange ich den Patienten vor dem Fenster mit seiner neuen Klinik-Liebschaft flirten sehe, geht es ihm sicher besser als 1, auch während er mit viel Spaß Tischtennis auf dem Klinikhof spielt, klettert der Wert in obere Bereiche, selbst bei Tisch, wo viel Gruppendruck herrscht, wirkt er ziemlich gut drauf. Aber kaum betritt er den Therapieraum, sinkt der Wert dramatisch – und erst recht, wenn der Therapeut hereinkommt und mal wieder die Skalierungsfrage stellt. Dahinter steckt häufig eine Angst vor Verantwortung für die Therapie und das Leben. Dann müssen wir als Therapeuten ein bisschen „tricksen“ (ich verstehe diese Tricks wie gesagt nicht als etwas Manipulatives oder gar Hinterlistiges) und den Fokus auf die genannten Beobachtungen (Flirt, Tischtennis, Essen) lenken und auf vergleichbar positive Erlebnisse, die dem Klienten selbst einfallen. Positive Psychologie ist nicht, die Welt für einen freundlichen Ort zu halten und die eigenen Chancen nur positiv zu sehen, sondern den Fokus immer wieder auch auf das zu lenken, was geht und gut ist, obwohl der Klient die Welt als feindlichen Ort erlebt bzw. „wahrnimmt“.

Die systemische Therapie verfügt über ein breites Repertoire an trickreichen Fragen, um sich der Selbstwirksamkeit zu nähern: „Wann war Ihr Wert zuletzt bei 5 statt nur darunter – was war da anders?“ „Wenn ich ihren besten Freund fragen würde, wann Sie es auf über 5 schaffen, was würde der sagen? Und was erkennt dieser Freund bei Ihnen, was Ihnen selbst schwerfällt wahrzunehmen?“

Die Skalierungsfrage bietet einen geeigneten Ansatz für kontraintuitive, also verwirrende Fragen, die die Therapie aus der Starre schütteln können:

  • „1,5. Hm. Wie schaffen Sie es, dass es nicht noch schlimmer ist?“ Oder ähnlich:
  • „Aha: 3! Was könnten wir jetzt tun, damit es schlimmer wird?“ (Oft erhält man durch die Frage nach der Verschlimmerung auch hilfreiche Aufschlüsse darüber, wie der Regler in die andere Richtung zu drehen sein könnte.)
  • „Schon wieder 2. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass wir mal in einer Stunde bei einem höheren Wert landen?“

Insofern könnte man die Skalierungsfrage auch eine spezielle Methode des „Reframings“ verstehen: den Dingen und Erscheinungen eine ganz andere Bedeutung verleihen, als der Patient bisher denkt. Wie meist beim Reframing sorgt der Überraschungseffekt für verblüfftes Lachen und Auflockerung – und damit schon für leicht veränderte Werte.

PS. Auch konstant hohe Werte sind verdächtig. Vielleicht werden Sie jetzt sagen: „Männo, Euch Therapeuten ist ja alles verdächtig!“ Kann sein. Jedenfalls können konstant hohe Werte darauf hinweisen, dass sich der Klient den wahren Herausforderungen, warum er die Therapie begonnen hat oder in die Klinik gekommen ist, gar nicht stellt – oder zumindest in den Therapiesitzungen „keine Lust“ hat, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Das klingt ein bisserl absurd, kommt aber gar nicht so selten vor.