Das Interesse an dieser eigenartigen Therapie wurde bei mir vor 30 Jahren durch Komplexmittel geweckt, die mir prima zu helfen schienen. Später lernte ich in der Ausbildung zur „klassischen“ Homöopathie (mit Einzelmitteln), dass Komplexmittel sowas wie Teufelszeug sind. Ich habe mich bemüht, meine Kenntnis der Arbeitsweise Hahnemanns und die eigene Sicherheit in der Verordnung von Einzelmitteln zu erhöhen, und an die Vorzüge von Komplexmitteln, vor allem bei sog. banalen Infekten und anderen weniger schwerwiegenden Erkrankungen, aber auch für Sanierungs- und Ausleitungskuren, habe ich mich trotzdem erinnert und sie bald wieder einbezogen. Im Folgenden reflektiere ich, wie sich die zwei wesentlichen Prinzipien der ursprünglichen Homöopathie in der Praxis heute wiederfinden.
Das namensgebende Prinzip der „Homöopathie“ ist die Ähnlichkeitsregel (auch Simile-Prinzip genannt): Eine Krankheit, die sich in spezifischen Symptomen äußert, wird durch ein Mittel geheilt, welches bei einem Gesunden sehr ähnliche Symptome auslösen kann. Daher der Name „homöo“ für ähnlich und „pathos“ für Krankheit. In Versuchen an Gesunden (Arzneimittelprüfung, AMP) muss herausgefunden werden, welche Symptome ein Mittel auslösen kann. Für die „Lösung eines Falles“, d. h. die erfolgreiche Behandlung eines Patienten, müssen dessen Beschwerden gründlich erfasst und auf ihre Ähnlichkeit zu Arzneisymptomen geprüft werden.
Es geht also nicht darum, für eine Krankheit ein Mittel zu finden, sondern für einen Patienten mit spezifischen Krankheitssymptomen. Allerdings, viele individuelle Krankheitsgeschichten und Symptome ergeben überindividuelle Gemeinsamkeiten und Schnittmengen, und genau davon lebt jede Praxis bzw. die angewandte Arzneimittellehre – die Homöopathie ist also keine rein individuelle Betrachtung und Behandlung des Patienten, das würde weder Erkenntnisse noch Behandlungserfolge ermöglichen. Und für die angewandte Arzneimittellehre spielt es letztlich keine entscheidende Rolle, ob das Mittel zu Symptomen passt, welche in der AMP auftauchten, sondern ob es bei diesen Symptomen schon häufig und beeindruckend geholfen hat – nur dies führt zu einer hochwertigen Markierung in der Arzneimittellehre. Diesbezüglich wurden in rund 200 Jahren Homöopathie viele Mittel langfristig erprobt und dokumentiert.
Hier erwies sich Homöopathie als Erfahrungswissenschaft oder -heilkunde, die auf viele einzelne kuriose Mittel neuster Zeit nicht angewiesen ist. D.h. es mag echte „homöopathische“ Phänomene geben, wo Ähnliches durch Ähnliches geheilt wird (innerhalb und außerhalb der Homöopathie), im Wesentlichen jedoch verstehe ich den homöopathischen Arzneimittelschatz pragmatisch als gesammelte Erfahrungen, „was bei was hilft“, als Ergebnis der Fleißarbeit vieler Homöopathen. Man kann diese Erkenntnisse für die Verordnung von Einzelmitteln verwenden. Und es gibt genauso gute Gründe, anhand der typischen, eher allgemeinen Symptome einer Erkrankung häufig passende Einzelmittel zu Komplexmitteln zu kombinieren.
Schon Hahnemann hatte festgestellt, dass etliche Krankheiten keineswegs so einzigartig verlaufen, sondern immer wieder typisch. Dies gilt zumindest für akute Krankheiten: Der stürmische Verlauf eines grippalen Infekts ist nicht außergewöhnlich oder individuell, so dass man mit dem Tipp „Probier’s mal mit Aconitum“ vielleicht doch Erfolg hat. Um die Trefferquote zu erhöhen, könnte man noch andere Mittel, die häufig am Anfang von Erkältungen passen, empfehlen: „Wenn Aconitum nicht hilft, versuch’s mit Belladonna.“ Oder man rät gleich zu einem Komplexmittel, in dem verschiedene solcher Mittel kombiniert sind …
Das zweite Prinzip der Homöopathie ist die Verdünnung bzw. Potenzierung. Wenn man es mit dem Hahnemann hält, muss man sich den Zweifeln der so genannten „Skeptiker“ aussetzen, denn er hat in seinen grundlegenden Publikationen eindeutig für Hochpotenzen plädiert – Mittel, in denen aus klassisch-physikalischer Sicht nichts mehr von der Ausgangssubstanz vorhanden ist. Es gibt zahlreiche Theorien und Modelle der neueren Grundlagenforschung, dass doch noch so etwas wie „Information“ darin stecken könnte, aber dies ist ein weites Feld und alles andere als bewiesen.
Rechtlich zählen allerdings auch die Urtinktur, also der alkoholische oder wässrige Pflanzenauszug, und sämtliche Verdünnungs- bzw. Potenzierungsstufen beginnend von D1 (1:9) oder C1 (1:99) zur Homöopathie. Tatsächlich finden sich in maßgeblichen deutschen Arzneimittellehren unter den Empfehlungen häufig Tiefpotenzen. Und auch Homöopathen, die im Allgemeinen konsequent C30 oder ähnliche Hochpotenzen verordnen, machen bei einzelnen Mitteln Ausnahmen und greifen zu D1 bis C6 (z.B. Aloe, Cactus oder Okoubaka), einfach: weil es sich bewährt hat. Ganz zu schweigen von der großen Zahl an Behandlern, die homöopathische Einzelmittel doch relativ stark anhand von Indikationen und vorstechenden Symptomen (also nicht sehr individuell ausgesucht) einsetzen und dabei meist auf tiefe oder mittlere Potenzen zurückgreifen.
Und dann wäre da noch die Komplexmittelhomöopathie, die ebenfalls überwiegend Tiefpotenzen verwendet. Kombinierte Mittel, die nach Indikation bzw. Krankheitsname (Cystitis, Diarrhoe, Angina, Sinusitis, Arthritis usw.) verordnet werden und nicht ganz individuell nach Patientensymptomatik (wie in der Einzelmittelhomöopathie), lassen sich im Prinzip wie ein synthetisches Medikament beforschen. Es muss nur jemand die Studie bezahlen, was sich für die allermeisten Homöopathika aufgrund ihres Umsatzes leider nicht rentiert. Immerhin rund 30 Komplexmittel konnten mittlerweile ihre Wirksamkeit in Studien nach naturwissenschaftlichen Standards belegen.
Für mich hat beides seine Berechtigung, die Einzel- und die Komplexmittelhomöopathie, jeweils mit eigenen Vor- und Nachteilen. Die Hahnemann-Büste auf dem Schreibtisch des Therapeuten garantiert nicht zwingend höhere Qualität. Seit Hahnemann hat sich eine Menge getan in der Homöopathie – übrigens auch in der Schulmedizin, was unsere Abwägungen als Homöopathen auch beeinflusst: zum Wohle der Patienten.
Tipp: Haben Sie es tatsächlich bis hierher geschafft 🙂 Vielleicht möchten Sie dann zu meinem aktuellen Homöopathie-Vortrag kommen. Ich würde mich freuen und heiße auch skeptische Menschen willkommen.