H wie Humanismus

Der Mensch ist auch nur eine Episode der Evolution. So in etwa, ziemlich lakonisch und doch pathetisch formuliert es Yuval Noah Harari (Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2013). Durch die Brille des Universalhistorikers erscheint als Pointe dieser „Geschichte“, dass sich der Mensch selbst abschafft: Einerseits setzt er alles daran, künstlich-intelligente Nachfolgewesen zu schaffen, die sich selbst vervollkommnen sollen, ihr Eigenleben fördern, Natur nicht mehr benötigen und von unseren nützlichen Helfern zu Kontrolleuren und Herrschern mutieren. Gleichzeitig werden Menschen durch immer „intelligentere“ medizinisch-technologische Eingriffe und integrierte Hilfsorgane selbst so verändert, dass irgendwann, in nicht mehr ganz so ferner Zeit, der Homo sapiens der Vergangenheit angehören wird.  Die Coronazeit zeigt solche Mechanismen wie durch ein Vergrößerungsglas oder Zerrspiegel. (Explizit zu den Risiken von Corona vermutet Harari, dass dies historisch der Wendepunkt zur totalen digitalen Kontrolle sein wird. Pikant, dass die t-online-Redaktion als Titel dafür „Chancen, die Welt zu verbessern“ wählt…)

Gegenwärtig werden wesentliche humane Lebensformen – für eine befristete Zeit – außer Kraft gesetzt oder schlicht verboten: Face-to-Face-Kontakte, überhaupt „Kontakte“, igitt, das klingt fast nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einem AIDS-Kranken, Händeschütteln ist schlimm genug, Umarmen, Küssen, Versammlungen, „jede Art von Feierlichkeiten“ (so der bayrische Innenminister) steht auf dem Index derer, die uns eine neue Art von Rücksichtnahme quasi-gesetzlich und strafbewährt „verordnen“. Die Angst macht es möglich: keine Diktatur, aber ein erwünschtes „Diktat“ unter Berufung auf Menschlichkeit und den Willen der Mehrheit.

Corona zeigt an manchen Stellen auch, wie viel Menschenunwürdiges schon lange in unserer humanen Lebensweise existiert, oft versteckt, noch öfter verdrängt – z.B. die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben oder auf Obstplantagen. Apropos Schlachtbetrieb: Verträgt es sich mit humanen oder humanistischen Idealen, wie krass wir uns die Erde untertan gemacht haben, wie beispielsweise unsere „Nutztiere“, zu vegetierenden Maschinen verwandelt, gequält werden? „Ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann selbst nicht frei sein.“ Frei nach diesem Friedrich Engels-Zitat könnte man auch sagen: „Eine Kreatur, die andere Kreaturen derart unterdrückt, kann selbst nicht frei sein.“ Die Abschaffung der Natur vollzieht sich jedenfalls nicht nur in der Klimakrise.

Gleichzeitig wartet ein Teil der gebildeten Menschheit – aus Angst vor der Natur „draußen“ und aus mangelndem Vertrauen in die Natur „drinnen“ (die menschliche Natur) – sehnsüchtig auf einen oder mehrere neuartige Impfstoffe, die in die Genetik des Menschen eingreifen. Es ist schon kurios, dass Politiker*innen, die sich jahrelang gegen Gentechnik auf dem Acker wie gegen einen Weltuntergang stemmten, auf einmal ganz selbstverständlich und zum Teil sogar mit Fortschrittsbegeisterung mitgehen, wenn wieder ein Riesenschritt weiter gegangen wird bei der biotechnologischen Manipulation des Homo sapiens, sich manche*r Promi von ihnen kurzfristig eine Impfpflicht „vorstellen“ konnte (bis ihn andere zurückgepfiffen haben), wenn das Volk nicht einsichtig genug wäre. Ganz so schnell wird sich die Menschheit vielleicht nicht selbst abschaffen, unter anderem, weil viele Menschen auch Angst vor Fortschritten wie einer solchen Impfung haben.

Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Marx und Engels haben bei ihrem ganz eigenen universalhistorischen Blick auf die Menschheitsgeschichte bemerkt, dass die Menschen zwar ihre Geschichte selbst machen, „aber nur irgendwie selbst“ könnte man sagen, jedenfalls nicht bei vollem Bewusstsein und in freier Selbstbestimmung, getrieben in einem Räderwerk der Geschichte, das sie gleichzeitig selbst immer neu bauen und antreiben. So sei doch alle bisherige Geschichte (vor der sozialistischen Revolution) im Grunde nur „Vorgeschichte“, eine Geschichte der Entfremdung. Ich finde, auch dieses Bild beschreibt die weltweite Situation in Coronazeiten ganz treffend: Einerseits haben wir selten Politik so gezielt, entschieden, machtbewusst und machtvoll erlebt (so dass sich manche Lockdown-Kritikern ohnmächtig wie nie zuvor fühlen!), gleichzeitig lässt sich kaum behaupten, dass sie wirklich gestaltet.

Aber wer lenkt dieses ganze Geschehen? Keine Ahnung. Es sieht jedenfalls aus wie gelenkt. „Der“ Mensch oder „die“ Menschheit ist es sicher nicht, die gibt es ja auch nur für Philosophen und Universalhistoriker. Dass es wieder mal „das“ Kapital sein soll, erscheint auch nicht rundum überzeugend, selbst wenn zweifellos einige Branchen und Unternehmen von der Panikdemie profitieren und sie massiv befeuern, andere zumindest sehr schnell gelernt haben, wie man daraus Gewinn zieht.

Ja, muss man denn an solch großen Rädern drehen wollen, die sich doch offenbar wie von alleine drehen? (Vielleicht wissen wir es in ein paar Jahren besser.) Was bringt mich dazu, mir Sorgen zu machen um die Zukunft der Menschheit oder des Homo sapiens – sind das Projektionen von ganz persönlichen Ängsten und Ohnmachtsgefühlen? Für uns mehr oder weniger kleine Rädchen stellt sich allerdings die Frage: Wie will ich leben? Oder: Was macht für mich Menschlichkeit aus? Ich muss mich entscheiden, welchen Humanismus ich praktiziere – und vielleicht wirke ich damit der irgendwie unvermeidlich erscheinenden Entwicklung etwas entgegen. Ein bisschen Hoffnung bei so viel Pessimismus darf schon sein, auch wenn der Universalhistoriker darüber müde lächelt.