V wie Verhaltenstherapie

„Wenn Du weiterhin das denkst und glaubst, was Du denkst, wirst Du weiterhin tun, was Du getan hast; dann wirst Du die gleichen Ergebnisse erzielen und die gleichen Gefühle spüren wie bisher – und diese werden Dich in Deinen Gedanken und Überzeugungen bestätigen …“ (so oder ähnlich von verschiedenen Autoren)

Dass ich einmal ein flammendes Plädoyer für Verhaltenstherapie halten würde, hätte ich mir lange Zeit, sehr lange Zeit, nicht denken können. Zugegeben, ich verstehe darunter nicht die klassische Verhaltenstherapie mit geringer Stundenzahl für ein begrenztes psychisches Problem. Aber auch diese „VT“ ist manchmal besser als ihr Ruf. Um den „Ruf“ wird es hier noch mehrfach gehen …

Als junger Mann, frisch von der Psychologie infiziert, fand ich die Wucht der Erkenntnisse, damals durch Lektüre psychoanalytischer Schriften, umwerfend. Wahrscheinlich habe ich nachfolgend den Wert von Erkenntnissen jahrzehntelang überschätzt und stand damit voll in der Tradition der Psychoanalyse (schon allein dieser Begriff verrät viel). Deren Begründer Sigmund Freud war davon überzeugt, wenn der Patient seine verdrängten inneren Konflikte in der Therapie ordentlich durchgearbeitet und begriffen („mentalisiert“) hat, wäre er gewissermaßen wie neugeboren. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Vielleicht übertreibe ich, aber mit Sicherheit hat Freud den konkreten Verhaltensänderungen, die unser Leben leichter und besser machen können, zu wenig Beachtung geschenkt.

Während des Studiums in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre besuchte ich ein Seminar über die „kognitive Wende“ in der Verhaltenstherapie. Vereinfacht gesagt ging es darum, dass ein Teil der Verhaltensforscher nicht mehr davon überzeugt war, man könnte den Menschen wie ein Tier schlicht zu einem gesunden Verhalten umerziehen, indem man dieses belohnt (und abweichendes Verhalten bestraft), also den Menschen neu konditioniert. Stattdessen galt es nun als zentral, das Denken und Meinen, auch die selektive Wahrnehmung des Menschen einzubeziehen, kurzum: die Kognitionen. In mehreren Jahrzehnten ist dann das daraus geworden, was wir heute u.a. als Arbeit an den Glaubenssätzen kennen. Ich fand das damals „ganz nett“, aber doch viel zu wenig anspruchsvoll und eben zu wenig erkenntnisträchtig im Vergleich zum Theoriegebäude der Psychoanalyse.

Heute sehe ich es anders, vor allem unter einem pragmatischen therapeutischen Blickwinkel: Für den Patienten ist es oft viel anspruchsvoller, etwas zu ändern, etwas Neues in die Tat umzusetzen, als – vielleicht zum wiederholten Male – eine tiefgründige Erkenntnis über die eigene Vergangenheit zu haben. Sicher, es braucht beides: einerseits zu begreifen, woher mein Verhalten kommt, wie meine Glaubenssätze entstanden sind, warum mein innerer Polizist, Zweifler oder Kritiker so stark ist („strenges Über-Ich“ sagt der Analytiker) – und sich diesem „wieso und warum“ wirklich zu stellen, das kann auch eine enorme Herausforderung sein; doch andererseits muss ich gewissermaßen noch heute damit anfangen, Veränderung auszuprobieren. Wer störungsfreier und selbstbestimmter sein Leben gestalten möchte, muss dafür Verantwortung übernehmen und ziemlich viel dafür tun.

Bei kognitiver Verhaltenstherapie (KVT), so nennt sie sich seit der kognitiven Wende, denkt man auch an ein einfaches Schema, was oft ABC-Schema genannt wird: A steht für Activators (Auslöser), B für Beliefs (Glaubenssätze) und C für Consequences (die Folgen von A und B, inklusive das Verhalten). Es ist wirklich simpel und lässt sich gewissermaßen auf alle psychischen Probleme anwenden, von einer Spinnenphobie bis zum Helfersyndrom. Auch auf den Teufelskreis von Ängsten und Depressionen, wie er im Zitat oben beschrieben ist.

Gemeinsam ist dem jeweiligen therapeutischen Vorgehen: Zuerst werden die Gedanken und Überzeugungen (Beliefs) analysiert; wo sie herkommen, wann sie gestimmt haben und warum sie jetzt nicht mehr stimmen, dann korrigiert! Neue Glaubenssätze werden gefunden, die die mentalen Hindernisse überwinden helfen. Und schließlich geht es ans Eingemachte: Neues Verhalten wird ausprobiert und eingeübt, nicht einmal, sondern vielfach. Therapie heißt Training!

VT hilft bekanntlich gut bei Ängsten: Bei Höhenangst hilft Treppensteigen, bei sozialen Phobien hilft Kontakt- und Beziehungstraining. Die Schrittgröße muss den individuellen Voraussetzungen angepasst werden: Der Patient mit Höhenangst wird nicht gleich auf den Eifelturm geschickt, und der Mensch mit sozialen Phobien nicht auf eine Kuschelparty. Ich habe wie erwähnt ein sehr breites Verständnis von Verhaltenstherapie, es umfasst alle Arten von Einüben neuer Einstellungen und Verhaltensweisen. Die zentrale Devise lautet dabei: „Wo die Angst ist, da geht’s lang!“

Dan Casriel, der Erfinder der Bonding-Psychotherapie, die mit „extremer“ körperlicher Nähe und damit verbundenem emotionalen Ausdruck arbeitet, war ursprünglich Analytiker, sogar Vorsitzender der US-Ärztegesellschaft für Psychoanalyse. Als er seine neue Methode der körperbezogenen Gruppentherapie entdeckte, bezeichnete er sie einige Zeit als „forcierte Umerziehung von Gefühlen, Verhalten und Einstellung“ – und das in den 1960er Jahren, wo man bei „Umerziehung“ auch an Mao Tse-Tung hätte denken können. Casriel, der ein eigenes, ganz anders ABC-Schema entwickelte, ging es gerade nicht um eine zwangsweise kollektive Umerziehung, sondern um die Befreiung des Individuums vom in der Kindheit erlebten und erlernten Mangel.

Ein altes Vorurteil gegenüber der Verhaltenstherapie, früher vor allem von gesellschaftskritischen bzw. politisch linken Aktivisten (wie mir 😉) vertreten, heute öfters von Patienten geäußert, lautet: Die Verhaltenstherapie diene doch „nur“ dazu, den krank gewordenen Menschen wieder funktionsfähig zu machen und in ins kranke System einzupassen. Der Tiefenpsychologie (früher Psychoanalyse) haftet dagegen bisweilen immer noch etwas Gesellschaftskritisches bis Revolutionäres an.

Doch was zu Freuds Zeiten oder in der 1968er Zeit revolutionär war, muss es heute nicht mehr sein. Aus therapeutischer Sicht habe ich zwei andere Einwände gegen das Vorurteil: Erstens hat das „Funktionieren“ einen unverdient schlechten Ruf unter Patienten. Mir wäre lieb, manche von denen, die da regelmäßig dissoziieren, Panikattacken haben, sich in der Isolation verkriechen und im Opferzustand einrichten, würden besser funktionieren, in ihrem eigenen Sinn und im eigenen Dienst! Zweitens, und das hängt damit zusammen, kann man auch dezidiert unangepasstes Verhalten mit der VT erarbeiten und trainieren.

Haben Sie das Folgende schonmal gehört oder noch besser ausgesprochen? „Ich darf Nein sagen!“ oder: „Ich darf mein Leben selbst gestalten!“ oder: „In meinem Leben bin ich der wichtigste Mensch!“ Und haben Sie schon erlebt, wenn Sie dies wirklich vertreten, geht die Welt nicht unter und es öffnet sich auch kein Abgrund vor Ihnen, sondern Sie gelangen zu einer freudvolleren Lebensgestaltung und, oh Wunder, auch zu deutlich besseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Falls Sie es noch nicht erlebt haben, dann wird es Zeit für irgendeine Art von „Verhaltenstherapie“!

Das Ziel jeder Art von Psychotherapie sollte eine bessere Lebensgestaltung des Klienten sein, ein gesünderer Umgang mit den eigenen Bedürfnissen. Wenn die primären Bedürfnisse weitgehend psychosozialer Art sind (Bindung, Autonomie, Selbstwert, Identität/Zugehörigkeit), muss umfassende „Verhaltenstherapie“ bedeuten, dass wir die psychosoziale Kompetenz des Klienten verbessern helfen, dass er (sie) eine bessere Selbstfürsorge im Umgang mit andern lernt und ein Gespür für seine Selbstwirksamkeit bekommt. Indem der Therapeut mit ihm oder ihr konkret übt und ihn (sie) zum weiteren selbständigen Üben motiviert, hilft er, das Gefängnis zu verlassen, in das wir Menschen gelernt haben, uns selbst einzusperren. Es ist wirklich ein „Breaking Free“, ein Ausbruch aus dem eigenen System von Zwängen.

Das klingt dramatisch. Oft fühlen sich die ersten Schritte „heraus“ genau so dramatisch an! Es kann sehr emotional werden, wenn ich jemand zur Seite stehe, der das erste Mal sagt: „Ich bin ein erwachsener Mann von 38 Jahren. …. (Pause und Bestätigung durch andere) … Ich lerne immer mehr mich so zu verhalten.“ Oder wenn eine Patientin, die ein Leben lang immer nur gewartet hat, bis andere auf sie zugehen, erstmals bewusst selbst auf jemand zugeht, etwas riskiert und einen Wunsch äußert. Das ist meist schmerzhaft, weil es an das verpasste Leben erinnert, und gleichzeitig schrecklich schön: endlich aus- und aufzubrechen.

Gewiss, nicht alle tief liegenden Probleme lassen sich allein mit Verhaltenstherapie und Training überwinden. Wer 40 oder 50 Jahre in abhängigen Beziehungen als Opfer verbracht und sich irgendwie damit eingerichtet hat, wird dies sicher nicht überwinden, nur weil ich ein paar Stunden oder auch Wochen mit ihm übe. Da stellt sich dann die Frage, um welche Ziele es überhaupt in der Therapie gehen kann – und, das ist der systemische Aspekt, warum vielleicht der Nutzen, alles beim Alten zu belassen, doch größer ist. Denn, was weder die Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie noch die Verhaltenstherapie so richtig zu fassen bekommen, das ist die Problematik des Rückfalls, nicht des ein-, zwei-, dreimaligen, sondern des kompletten Rückfalls, wenn die Patienten wieder in das alte Umfeld zurückkehren und sofort die alten Muster bedienen.

Das schmälert jedoch nicht den Sinn und Zweck der Verhaltenstherapie. Nochmal auf ein Wort mit Dan Casriel, auch wenn das Verhältnis von Bonding-Psychotherapie zur üblichen Verhaltenstherapie wegen der so unterschiedlichen Arbeitsweise auf den ersten Blick eher wie Feuer und Wasser wirkt. Doch heute können die langjährig bewährten Therapieschulen vieles voneinander übernehmen. Dan Casriel sagte (sinngemäß) zu Patienten: „Sie sind nicht krank, Sie sind unglücklich. Und Sie trauen sich ein glücklicheres Leben noch nicht zu. Aber glauben Sie, dass Sie es lernen können, wenn Sie sich ständig mit ihrer Vergangenheit beschäftigen?“

Die Verhaltenstherapie hat akzeptieren gelernt, dass es ohne die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht geht – in der neueren Varianten dessen, was sich Schematherapie nennt, werden im Grunde vereinfachte tiefenpsychologische Erkenntnisse neu formuliert. Aber auch die Tiefenpsychologie musste einsehen, dass es ohne die Einübung von neuem Verhalten nicht zu einem gesünderen Leben kommt (und ganz nebenbei erkannt, dass so mancher Patient und mancher Therapeut sich lieber in der Vergangenheit vergraben, als das Risiko einzugehen, etwas Neues in die Tat umzusetzen). In den Worten von Dan Casriel klingt das so: „Hör auf Pferdescheiße zu analysieren. Reite das Pony!“*

Warum Pony, warum nicht Pferd? Die Schritte ins neue Verhalten müssen klein genug sein, damit sie realistisch sind und stattfinden. Jeder kleine Schritt, der in der richtigen Richtung wirklich erfolgt, ist wertvoller als der Riesenschritt, von dem viele nur träumen.

*PS. Eine andere Deutung des Zitats von Dan Casriel könnte übersetzt so lauten: „Hör endlich auf, so verkopft Therapie zu machen und rational Deine Probleme verstehen zu wollen! Lass Dich auf tiefere Emotionen und Nähe ein und schau wohin es Dich führt!“