(Endlich ein Blog zum Buchstaben „I“, der nichts mit Impfen zu tun hat :-))
Die einen haben’s im Kopf, die andern befragen ihr Bauchgefühl … Ich habe ein etwas anderes Verständnis von Intuition: Diese entsteht, indem Kopf und Bauch zusammenarbeiten. Derartige Intuition aufzubauen ist ein Lernprozess: Wissen anhäufen, Zusammenhänge verstehen, Erfahrungen sammeln und einordnen. Ginge das auch ohne Bewusstsein? Eventuell schon. Unsere Haustiere lernen auch Dinge, die wir ihnen gar nicht beigebracht haben, einfach durch wiederholte Erfahrung. Hund oder Katze „wissen“, wenn um 22:30 Uhr das Licht im Wohnzimmer ausgeht, wird ins Schlafzimmer gewechselt. Oder: Wenn es klingelt, kommt Besuch, und sei es „nur“ der Bote des Paketdienstes. Doch mit dem Bewusstsein sind wir im Vorteil – es verschafft uns Freiheit, die Routine nicht als Automatismus zu verstehen und bei Bedarf den Verstand einzusetzen.
Intuition bedeutet, komplexe Sachverhalte scheinbar spontan zu erfassen – und darauf beruhend eine Entscheidung zu treffen. In Bezug auf psychische Phänomene (Emotionen, Komplexe, Diagnosen) könnte man von „Einfühlungsvermögen“ sprechen, aber das meint dann etwas anderes als Empathie. Manchmal wirkt es, wenn wir etwas ent- oder aufdecken, während andere noch nichts davon wahrnehmen, wie eine „Eingebung“.
(Exkurs: Ich schreibe nicht von einem spirituellen Phänomen. Sicher könnte man unter Intuition auch so etwas wie eine „Schau“ von übersinnlichen Wahrheiten verstehen, denken wir etwa an die Visionen der Hl. Hildegard. Aber der Annahme, man könne die Schranke zwischen der erkennbaren Welt (der Wissenschaft) und der transzendenten Welt (des Glaubens) irgendwie mit welcher Art von „Schauen“ auch immer überwinden, stehe ich skeptisch gegenüber. Und noch skeptischer beobachte ich, wie viele Menschen sich solches „Schauen“ zutrauen :-). Nein, Intuition hat nichts mit Hellsichtigkeit zu tun, diese bezieht sich nämlich auf eine (geglaubte, unbeweisbare) Wahrheit, während Intuition meist eher etwas mit einer Wahrscheinlichkeit zu tun hat: dass eine bestimmte Option sinnvoll ist – aber eine andere sinnvolle Option ist dadurch nicht ausgeschlossen.)
Wir alle haben viel Intuition aufgebaut, auch zwischenmenschlich, etwa ein Gespür dafür, was der andere jetzt bräuchte, was sein nächster Schritt sein könnte usw. Allerdings haben die meisten von uns noch mehr Barrieren aufgebaut, die uns hindern, die Intuition zu nutzen. Daher bedeutet Intuition nutzbar machen in erster Linie: auf sie hören lernen. Das wird aber im Kontext von Therapie oft missverstanden. Menschen berufen sich dabei auf ihre „Intuition“, um sich und ihr irrationales Verhalten zu schützen, z.B. bei ihrer Nahrungs- und Genussmittelauswahl (inklusive Alkohol). Wenn man Patienten mit einer ausgeprägten Essstörung (oder Sucht) „intuitiv“ essen ließe, täte man ihnen keinen Gefallen, sondern würde alles noch schlimmer machen. Hier verhindert die als „Intuition“ getarnte Störung die notwendige Einsicht und die Bereitschaft zum Umlernen.
Wann haben Sie sich zuletzt geärgert, dass sie nicht Ihrer Eingebung folgten und am Ende genervt sagen mussten: „Ich hab’s ja geahnt …“? Und warum haben Sie’s nicht getan? Häufig liegt es daran, dass wir mit der Unterdrückung der Intuition etwas anderes vermeiden wollen: Unsicherheit und Risiken, Konflikte oder zusätzliche Arbeit.
Und was halten Sie von der „Liebe auf den ersten Blick“? Ich war nie besonders überzeugt davon, für mich handelt es sich dabei nicht um Intuition, sondern primär um Projektion – eigentlich nicht viel anders, als wenn (in der Negativvariante) andere Menschen nur aufgrund von Äußerlichkeiten, also Ähnlichkeiten mit bekannten Menschen und unangenehmen Erinnerungen, als „Trigger“ empfunden oder bezeichnet werden.
Intuition hat dagegen etwas mit Freiheit und Kreativität zu tun, vergleichbar mit einer Malaktion oder einer musikalischen Improvisation: mit der uns überwiegend unbewussten Berücksichtigung von und Spielen mit Gesetzmäßigkeiten, so dass etwas stimmig erscheint. Nachträglich kann man es wahrscheinlich rational erklären (und Künstliche Intelligenz würde es daher vielleicht auch hinbekommen, aber das ist ein anderes Thema). Patienten haben mir wiederholt mitgeteilt, dass der hohe Anteil an kreativen Arbeiten in unserer Klinik ihre Intuition fürs Leben trainiert habe.
Eine psychosomatische Klinik könnte man tatsächlich als Schule der Intuition verstehen: Patienten lernen, das, was sie als „Menschenkenntnis“ abgespeichert oder verinnerlicht haben, zu ergänzen und zu korrigieren, lernen den Unterschied zwischen bloßer Projektion (alter Erfahrungen auf neue Bekanntschaften), Selffulfilling-Prophecy (wenn ich nur fest genug an mein Unvermögen oder an die Schlechtigkeit der Menschen glaube, wird sich dies garantiert bestätigen) und Intuition. Sie reden hier – idealerweise – auch mit jenen, um die sie „draußen“ einen Bogen machen würden, und üben beispielsweise Nein zu sagen zu Menschen, die ihnen lieb sind und zu denen sie draußen (gegen besseres inneres Wissen, also Intuition) Ja sagen würden. Dies alles und die Kreativtherapie verändert die Selbsterkenntnis und die Menschenkenntnis, und es steigert die Risikobereitschaft, befreit die Intuition, denn diese zu nutzen bedeutet definitiv mehr, als einem alten Muster zu folgen.
Für uns Therapeut:innen ist die Klinik ebenfalls ein wunderbarer Ort, die Intuition zu schulen: Tausende Patienten, die man gesehen und erlebt, Hunderte, mit denen man intensiver gearbeitet hat, das macht einiges mit der Intuition. Aber nicht weniger wichtig ist, dass Kollegen z.T. andere Ansätze verfolgen, also dass wir die Perspektiven, Prognosen und darauf beruhenden therapeutischen Aktionen (die sog. „Interventionen“) der Kolleg:innen als Ergänzung und manchmal Korrektur unserer eigenen Hypothesen und Praktiken erleben. Für mich ist die Klinik aber auch der ideale Ort (im Unterschied zur ambulanten Therapie), Patienten überhaupt meine Intuition zuzumuten, und zwar explizit als individuelles „Angebot“ – vor dem Hintergrund, dass sie von Kolleg:innen andere Sichtweisen und Vorschläge bekommen können.
Als Therapeut muss ich mir immer bewusst sein, dass Intuition nicht gleichbedeutend mit Wissen ist, daher kann ich das, was mir „eingegeben wird“, nur als Angebot ausprobieren und mich vortasten. Patient:innen reagieren teilweise ambivalent auf dieses Angebot. Tatsächlich traut sich kaum jemand, auf die Frage „Darf ich Ihnen meine Sicht anbieten?“ zu antworten: „Nein, danke, Herr Wagner, das mag ich gar nicht hören.“ Gemeint ist mit der Frage allerdings: „Sie können es nach dem Anhören als unzutreffend oder unbrauchbar verwerfen.“
Ich sollte als Therapeut nicht zuletzt an die Gefahr denken, dass ich den Patienten mit meinem Vortasten in eine gewisse Richtung „steuern“ könnte. Selbst wenn die Richtung stimmig sein sollte für den Betreffenden, ist es nicht automatisch das Beste für ihn oder sie, wenn ich es ihnen abnehme, sich selbst im gesunden Sinn intuitiver zu verhalten! Intuitive Therapie sollte also nicht ein Mittel der Eitelkeit sein: die Wunder vollbringen zu wollen, die der Patient letztlich selbst vollbringen muss. (Das ist für beide gar nicht so leicht zu akzeptieren …) Andererseits erlebe ich immer wieder, wenn ich der Intuition folge, z.B. mit einer gewagten These, einer experimentellen Aufgabe, einer paradoxen Intervention (also einem Vorschlag, der genau das Gegenteil beinhaltet von dem, was der Patient erwartet) oder einem frei erfundenem therapeutischen „Format“, dann tritt manchmal doch eine wundersame Wende ein. Obwohl es sich eben nicht um ein Wunder handelt, in der Therapie ist Intuition eher eine achtsame Routine.
Und es gehört Glück dazu. Also kann man auch Pech haben? Ja. Die Intuition können wir nur nutzen mit einigem Vertrauen darauf, dass im Falle des Irrtums – oder des Pechs – nicht die Welt untergeht. Vielleicht könnte dies auch eine Richtschnur für den Alltag sein: Ich darf mehr riskieren in Sachen Intuition, aber sicher keinen Weltuntergang. Im Zweifel doch auf den Kopf vertrauen, das wäre mein Rat.
Ein Faktencheck hat schon manchmal geholfen: Wenn ich von Würzburg nach Freiburg fahre, und auf dem Rückweg nicht minder, warten in der Regel Staus auf mich, egal welche Route ich wähle. Nun könnte ich bei der tagesaktuellen Routenwahl jeweils meine „Intuition“ spielen lassen: Fahre ich über die A8 oder über die A6 zur A5? Oder ich könnte den Verkehrsfunk anstellen und zwischendurch auf Google-Maps schauen. Ich würde mich lieber intelligent verhalten (und dabei auch die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz nutzen) als intuitiv.
In anderen Fällen hilft es durchaus, im Zweifel mal jemand zu fragen, der (ebenfalls) „Ahnung“ hat, nicht nur ein Bauchgefühl, sondern auch Wissen.