K wie Konflikte in der Tiefe(npsychologie)

Ein Großteil unserer anhaltenden oder wiederkehrenden Lebensprobleme entsteht dadurch, dass wir vor bestimmten äußeren und inneren Konflikten immer wieder zurückweichen – oder dass wir unsere verdrängten inneren Konflikte in der Außenwelt inszenieren. In der Therapie haben wir die Chance, es anders zu machen, korrigierende Erfahrungen zu sammeln und auf dieser Basis ein neues „Lebensrezept“ zu schreiben. Bleiben Konflikte dagegen ungelöst oder, schlimmer noch, werden sie erst gar nicht in Angriff genommen, dann kann eine tiefe Hoffnungslosigkeit entstehen. Ein Leben nach der unausgesprochenen Devise „sich drücken statt sich trauen“ führt in eine Depression, die typischerweise mit ganz viel Floskeln und Rationalisierungen wie „passt schon“ kaschiert wird. Die Psychoanalytikerin Karen Horney hat vor rund 80 Jahren beschrieben, wieviel Energie  hochintelligente Menschen (das hat sie damals sehr erstaunt) aufbringen, um zu einer solchen „unechten Gelassenheit“ zu finden.

Die Betroffenen verdrängen die Konflikte zum Teil erfolgreich, aber zu einem hohen Preis: Die falsche Gelassenheit und die oft „künstliche Harmonie“ (Horney) machen das Individuum „unvermeidlicherweise schwach“, entziehen ihm das Gefühl von Selbstwirksamkeit, ein Mangel an Lebendigkeit, verstärkte Antriebs- und Teilnahmslosigkeit bis hin zur totalen Erschöpfung (Burnout war damals noch nicht als solches bekannt) sind die Folgen, aber auch passive Aggression („Lass mich in Ruhe!“), Absonderung von andern, Zynismus und allgemeine Weltuntergangsstimmung können auftreten, denn beim jeweiligen Zustand dieser Welt war es schon damals und ist es auch heute leicht, die eigene Misere darauf zu projizieren. Horney sah das Typische am „neurotischen“ Konflikt oder am Konflikt des „Neurotikers“ (des psychisch kranken Menschen) gerade darin, dass er den eigentlichen Konflikt komplett verdrängt hat.

Was ist der eigentliche Konflikt? Die Psychologie beschäftigt seit ihren Anfängen die Frage, ob es so etwas gibt. Für Freud bestand der Grundkonflikt zwischen den triebhaften Impulsen (Es) einerseits und den diese kontrollierenden und hemmenden Normen bzw. der Er-Innerung an die sie repräsentierenden Instanzen (Über-Ich). Bei dieser Konstellation konnte das menschliche Leben (zumindest in der Zivilisation) bestenfalls eine Art Kompromiss werden. Man kann sich fragen, ob Freuds Kulturpessimismus aus dieser „Erkenntnis“ entsprang (Huhn) oder nicht vielmehr zuerst war und zur psychoanalytischen Theorie des Grundkonflikts führte (Henne). Man könnte weiter spekulieren, was es mit Freuds eigenem Leben, seinen unterdrückten Bedürfnissen und vermiedenen Konflikten zu tun hat – und vielleicht auch damit, welche Klientel die Grundlage seiner Studien bildete.

Horney war der Ansicht, ein Mensch, der in einem aktuellen Konflikt mit seinem Latein am Ende ist und sich an den Psychotherapeuten (also damals Analytiker) wendet, muss zwangsläufig enttäuscht werden, weil eine einfache Klärung des Konflikts nicht möglich sei, sonst hätte sie der Klient selbst zuwege gebracht. Vielmehr fördere der ungelöst aktuelle Konflikt das „Dynamit“ der Grundkonflikte zutage und bringt es in der Therapie möglicherweise zur Explosion. Damals galt die bis heute noch anzutreffende Vorstellung, „erst wenn“ die zugrundeliegenden Konflikte – im mühevoller und langwieriger Analyse – durchgearbeitet und „gelöst“ wären, könnte sich der Betreffende auch im Leben und in den aktuellen Konflikten angemessen vertreten und für sich sorgen. Heute ist weit über die Grenzen von Lerntheorie und Verhaltenstherapie anerkannt, dass die Klienten sehr wohl ihre Selbstwirksamkeit und ihre Konfliktfähigkeit mit und in der Therapie trainieren und aufbauen können, ohne dass irgendwelche Grundkonflikte bereits gelöst wären. 

Mit andern Worten, heute können wir aus therapeutischer Sicht feststellen, dass es meist gar nicht nötig ist, dermaßen fundamental zu werden: Therapeutisch „reicht“ es oft, die bestehenden aktuellen Konflikte anzuschauen, dabei treten die bedeutenden Konflikte und Muster der persönlichen Vergangenheit, namentlich der Kindheit, ohnehin ans Tageslicht und lassen sich mehr oder weniger gut bearbeiten (das hängt von verschiedenen Faktoren ab, u.a. von der therapeutischen Beziehung und ihrer Dauer, aber auch vom aktuellen Umfeld des Klienten). Therapeutisch arbeiten bedeutet dabei: immer den nächsten möglichen Schritt des „sich trauen statt sich zu drücken“ ins Auge fassen und ihn so klein und konkret zu konzipieren und vorbereiten, dass er realistisch ist, in der Mehrheit tatsächlich gegangen wird und damit die Selbstwirksamkeit stärkt.

Dazu trägt natürlich auch maßgeblich bei, dass ich als Therapeut mich nicht drücke! Wenn ich zurückschrecke, verstärkt sich die Phantasie der Patienten, dass etwas Schlimmes passieren muss, wenn man Konflikte bearbeitet. Das Gegenteil trifft eher zu. Dabei soll nicht der Eindruck erwecken, dass mir als Therapeut Konflikte nur Freude machen. Manchmal muss ich auch so tun als ob – d.h. aber nicht: mich verstellen, vielmehr mich bewusst einstellen, meine Neugier aktivieren, vom Kopf her und aus dem Wissen heraus anfangen, welche Chancen da auf uns warten (auch wie viel ich persönlich dabei lernen kann).

Viele Konflikte können nicht befriedigend aufgelöst oder auch nur befriedet werden, zumindest nicht in dem Sinn, wie der Klient es anfangs hofft. Vielfach bleibt der aktuelle Konflikt oder ein Großteil davon im Raum (mein mit mir zerstrittener Mitpatient, Nachbar, Bruder oder Kollege wird nicht auf einmal mein bester Freund) und ich sollte eine Lösung als Therapeut nicht erzwingen. Möglich ist aber, die grundlegenden Erkenntnisse dieser Arbeit am Konflikt (grundlegend für den Klienten oder für Konflikte im Allgemeinen) zu wertschätzen – und auch lernen zu differenzieren: Selbst wenn ich mich mit dem Konfliktpartner hier und heute oder auch gar nicht einigen kann, passiert doch nicht das „Schlimme“, das ich aus früheren Konflikten kenne. Und ein stummer Krieg ist oft mit mehr Leid verbunden als ein ausgetragener Konflikt. Vielleicht nehmen die Patienten auch die Methode der Konfliktklärung an sich in ihr Leben mit: Dass es nicht um Schuld(zuweisen) und Recht(haben) geht, sondern um die Bedürfnisse und Gefühle beider Parteien, dass es manchmal dafür einen Mediator braucht, der streng neutral bleibt – und dass dies alle entlastet, auch jenen Konfliktpartner, der felsenfest davon überzeugt ist, der andere sei schuld. Vielleicht ist es im konkreten Konflikt nicht möglich anzuerkennen, wie sehr daran eigene inneren tieferen Konflikte beteiligt sind – und doch kann der Betroffene es später eher sehen, auch ohne klassische Neurosentherapie „aufrichtiger“ zu sich selbst werden (Horney), und die Erkenntnisse der Therapie nutzen.

PS. Konflikte in der Einzel- und Gruppentherapie, Konfliktbearbeitung als antidepressive Therapie, ist das Thema des Beitrags Konflikte als Chancen.