M wie Moral

Moral ist Gift in der Therapie! Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen. Mein Vater war ein sehr moralisch denkender und moralisierender Mensch und – sicher nicht zufällig – leidenschaftlicher Lehrer. Und beides liegt mir auch im Blut, d.h. habe ich tendenziell übernommen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Ich wollte nicht Lehrer werden (zu viel Wiederholung Jahr für Jahr, dachte ich), aber auch in den Jobs die ich hatte und habe, hebe ich oft den pädagogischen Zeigefinger 🙂 Und umgekehrt habe ich auf viele Situationen im Leben einen pädagogisch-moralischen Blick übertragen, z.B. auf meine eigene Therapie.

Selbst als ich schon jahrelang Therapie gemacht hatte, habe ich die Sitzungen oft noch wie eine Beichtstunde empfunden: Die Ehrlichkeit, die da gefordert war, erlebte ich fälschlicherweise vielfach so, als müsste ich alle Sünden, alle Verstöße gegen meine und gesellschaftlichen Werte beichten und eventuell „Absolution“ wie im Beichtstuhl erteilt bekommen. Es ist mir durchaus peinlich – aber mit einigem zeitlichem Abstand doch möglich einzugestehen –, dass ich erst, als ich die Seiten wechselte und selbst intensiver als Psychotherapeut zu arbeiten begann, den Haken mit der Moral in der Therapie zu begreifen begann.

In der Therapie gibt es nur eine einzige – scheinbar – moralische Kategorie, die Sinn macht: Ehrlichkeit. Ehrlichkeit gegenüber mir selbst als Patient, erst danach Schritt für Schritt Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber dem Therapeuten und dann vielleicht, gewissermaßen als Krönung der therapeutischen Herausforderungen, Ehrlichkeit gegenüber Mitpatient:innen.  In dem Moment, wo moralische Bewertung einen prominenten Anteil in der therapeutischen Arbeit bekommt – meist weil Patienten diese Perspektive aus Angst vor Therapie einnehmen oder einfordern! – , ist die Ehrlichkeit bedroht.

Moral ist ein Abwehrmechanismus, und ein hocheffektiver: Taucht sie auf, dann fällt es uns extrem schwer, unangenehme oder tabuisierte Gefühle und Impulse wahrzunehmen (wie Stolz, Neid, Eifersucht, Hass u.a.) und wir werden von Scham überschwemmt bzw. schützen uns davor, was viele negative Folgen hat, zunächst einmal die, dass wir nicht erfahren können, dass Scham eine natürliche Begleiterscheinung von Offenheit über das Alltägliche hinaus ist und wir sie nicht abwehren müssen. Kurz gesagt: je mehr moralische Bewertung im therapeutischen Prozess auftaucht, desto mehr machen Patienten „zu“. Für uns als Therapeuten bedeutet dies, dass wir genug Eigentherapie oder Selbsterfahrung mit dem Thema gemacht haben müssen, um nicht doch heimlich Partei zu ergreifen für das moralisch Richtige, sondern entschieden die Ehrlichkeit des Patienten verteidigen. (Und manchmal müssen wir ihn auch davor schützen, wenn der aktuelle Gruppenprozess eine therapeutische Arbeit mit dem Tabubruch nicht zulassen würde.)

Therapie ist ein Lernprozess: Ich lerne mich kennen und lerne ein besseres Leben zu führen. Aber wir dürfen diesen Prozess gerade nicht mit Lernen in der Pädagogik verwechseln und mit Moral vermischen. Vielmehr müssen wir häufig die verheerenden Folgen der Pädagogik beseitigen, die massive Verdrängung eigener Bedürfnisse überwinden. Moralische Hemmungen halten Patient:innen davon ab, wirklich Innenschau zu halten, und erst recht davon, sich zu öffnen, in der Einzel- wie in der Gruppentherapie. Wenn es dann doch geschieht, müssen wir, ich wiederhole mich bewusst, als Therapeut alles dafür tun, dass die sich zaghaft öffnende Tür nicht durch eigene moralische Bedenken oder moralisierende Mitpatientinnen zugeschoben oder gar zugeschlagen wird. Das wäre verheerend für den Betreffenden, aber auch für alle anderen, da die Tabus, die eine Schutzwand gegen den therapeutischen Prozess darstellen, bei ihnen gestärkt würden.

Ein Patient hat seine Kinder geschlagen, eine anderer geht regelmäßig ins Bordell, eine Patientin hat ihren Mann jahrelang betrogen, eine andere hat im alkoholbefeuerten Geschwindigkeitsrausch einen Menschen überfahren, wieder ein anderer hat jahrelang als Kleinkrimineller Drogen vertickt oder Geld aus fremden Töpfen abgezweigt, den Staat oder Mitmenschen betrogen usw.usf. Das mögen extreme Beispiele sein, die weniger krassen sind aber genauso tückisch und sträuben sich gegen Ehrlichkeit („manchmal träume ich davon, meinen Mann umzubringen“).

Es gibt viele Taten oder Impulse, die in der Therapie auftauchen können. Auch wenn diese häufig gar nicht das therapeutisch dringlichste Problem darstellen, können sie dem Therapieprozess im Wege stehen, weil der Patient das Riesenbedürfnis aber auch die Höllenangst hat, sich wirklich mitzuteilen. Wenn er dann (z.B. von Mitpatienten) moralisch abgeurteilt und somit für seine Offenheit bestraft wird – und jeder Gruppentherapeut hat das vermutlich schon erlebt –, kann bestenfalls eine Scheinlösung herauskommen. Der „Täter“ selbst „gesteht“ seine Schuld, erledigt damit den äußeren und verdrängt damit die inneren Konflikte, die für die Therapie so wichtig gewesen wären. Auch die Mitpatient:innen verlieren dadurch eine Riesenchance, wirklich hinzuspüren, was unter der moralischen Abwehr an Gefühlen und Bedürfnissen brodelt.

Depressionen, aber auch Angst- und Zwangsstörungen entstehen häufig aus der Verdrängung von inneren Konflikten zwischen Normen und Bedürfnissen, oder klassisch gesprochen: zwischen Über-Ich und Es. Wenn wir uns diesen Konflikten nähern, geht es den Betreffenden dadurch nicht sofort besser, vielleicht sogar schlechter wegen Scham und Angst, verstoßen zu werden. Die „innere Weisheit“, der Gralshüter der Alltagsrealität, ahnt dies und versucht daher die Öffnung zu verhindern. Dazu ist Moral, weil sie so überzeugend daher kommt und schnell Zustimmung erheischt, ein hoch effektives Mittel, einer der wesentlichen Schutzmechanismen gegen Psychotherapie. Wenn Patient:innen viel und stark von Normen und Moral reden (man muss doch, das tut man nicht, ich erwarte schon), wissen wir, dass sie wenig Therapieerfahrung und Angst vor dieser Erfahrung haben. Ähnlich ist es, wenn der Begriff „normal“ häufiger fällt oder auch nur in der Luft liegt, dies signalisiert nur, dass das gesellschaftliche Über-Ich überrepräsentiert ist und die Bedürfnisse bestenfalls zensiert ans Tageslicht kommen dürfen.

Ich lade daher immer wieder ein zum unzensierten und tabufreien Denken, fordere auf, nicht Partei zu ergreifen, empfehle zu versuchen, sich und andere immer weniger zu bewerten – wenn es ihnen bei anderen besser gelingt, wird es ihnen auch bei der Betrachtung der eigenen ungeschminkten Wahrheit helfen, und umgekehrt. Gleichzeitig versichere ich den Patienten aus voller Überzeugung: Wenn es uns gelingt, offen und tabufrei über unsere Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und zu diesen zu stehen, werden wir am Ende auch viel Gutes für die Moral in der Welt draußen erreichen können (weil wir dann auch die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen wirklich ernst nehmen können), wir werden zu Botschaftern für mehr Menschlichkeit und Frieden, ganz sicher, aber für den Prozess der Therapie muss Moral erstmal außen vor bleiben.

Sicher können Patient:innen auf die Frage, was das Erzählte mit ihnen macht, mit einer Bewertung oder Verurteilung antworten, das an sich ist nicht verwerflich, sondern interessant, die Reaktion darf sogar heftig sein und ist dennoch willkommen – ich mache allerdings immer klar, dass es sich dabei nur um eine nachvollziehbare Erstreaktion handelt und das therapeutisch viel Interessantere hinter diesem Urteil verborgen ist.

Ich etabliere als Therapeut immer wieder verschiedene Regeln, um moralische Perspektiven auszuschließen aus dem therapeutischen Prozess im engeren Sinn. In der Paarberatung ist dies z.B. die 50:50-Regel: Ich tue immer so und erwarte dies auch von den Klienten, als ob beide Seiten 50% Anteil an der Misere (auch am Glück) der Beziehung hätten. Das mag ziemlich fiktiv sein und anfangs wirken, aber es führt dazu, dass die Fragen nach Moral und Schuld – die typischen Fragen in schwierig gewordenen Partnerschaften – weitgehend herausgehalten werden, zugunsten von „Ehrlichkeit“ gegenüber Gefühlen und Bedürfnissen.

Das gilt natürlich erst recht, wenn sich die „Untat“ im therapeutischen Kontext selbst ereignet und „Täter“ und „Opfer“ einer Therapiegruppe angehören. Es ist sicher oft eine heikle Gratwanderung, sich auch bei eindeutigen Übergriffen darum zu bemühen, die moralische Bewertung weitgehend auszuklammern. Es gibt da keine pauschale Lösung, außer der Bitte, nicht zu schnell zu (ver)urteilen, sondern alle Beteiligten sowie die Beobachter darum zu bitten herauszufinden, was für sie eine neutrale Wahrnehmung des Vorfalls wäre und was das Geschehen gerade mit ihnen „macht“, welche Gefühle, Bedürfnisse, Impulse auftauchen. 

Die Schuldfrage ist so ziemlich das Letzte, was in der Therapie weiterhilft – übrigens trifft das meist auch auf „Schuldgefühle“ zu (Thema meines nächsten oder übernächsten Blog-Beitrags) –, aber ein todsicherer Weg, den Therapieprozess zu lähmen. Und, by the way, Empathie geben ist alles andere, als dem Patienten zu vermitteln, dass er oder sie Recht hat, sich als Opfer (oder Täter) zu „fühlen“; das sind meist „Pseudogefühle“, auch wenn wir alle wissen, dass es Täter und Opfer gibt. Empathie heißt, mitzuleiden („pathos“ hier für: Leiden!), mitzuleiden in der Angst, in der Ohnmacht, in Trauer und Wut und Scham und was sonst alles da sein kann beim Patienten, aber nicht ihm „Recht geben“.

Ein weites Feld – bleiben wir bei der Moral. Normen, Werte, Moral, Pädagogik … das alles ist sehr wichtig, damit wir zusammenleben können! Ich bin, wer hätte das gedacht, irgendwie immer noch Moralist. Und selbstverständlich spielt Moral auch in die Therapiesituation hinein, und darf es auch, denn wir kommen aus dem Leben in die Therapie und müssen oder dürfen zurück ins Leben, nur viel zu oft spielt Moral eine viel zu große Rolle in der Therapie. Daher setze ich immer wieder bewusst die Gegenthese: Moral ist das Gift in der Therapie. Bestenfalls hilfreich als homöopathische Provokation.