Eigentlich ist Liebe etwas zu Großes und Komplexes, um es „zu definieren“. Heute interessiere ich mich – nach einem kurzen Ausflug in die Definitionsabgründe – daher „nur“ für die konkrete Frage, inwiefern Liebe Bestandteil der Therapie ist? Nach meiner Erfahrung ist Liebe die Basis der Therapie (wie schön übrigens, wenn man das auch für die „normale“ Medizin sagen und als Arzt oder Heilpraktiker aus dieser Haltung arbeiten kann)! Wahrscheinlich gibt es eine Reihe von Therapeut*innen oder akademischen Psychologen, die sich damit schwertun.
What is love? (Baby, d‘ont hurt me!) Ja, was ist Liebe? Vielleicht ein mehr oder weniger romantischer Begriff für das, was die Psychologie ansonsten Bindung nennt. Oder eine Haltung gegenüber bestimmten Menschen und anderen Lebewesen. Ein Gefühl? Zu den Grundgefühlen gehört sie bei den wenigsten Psychologen, schon allein, weil Grundgefühle wie Angst, Wut, Trauer irgendwie einfach sind, Liebe dagegen komplex. Ob es sich überhaupt um ein Gefühl handelt, das hängt davon ab, wie man Gefühle definiert. Ich verstehe Gefühle gerne als von Gedanken nicht ganz freie Emotionen, die uns verraten, wie es um unsere Bedürfnisse „darunter“ steht. Selbstverständlich erschöpft sich ihre Bedeutung darin nicht, aber ob es sich um ein Gefühl handelt, mache ich auch davon abhängig, ob es uns verrät, wie es um Bedürfnisse steht. So verrät uns Angst, dass es um unser Bedürfnis nach Sicherheit (in einer speziellen Hinsicht) schlecht bestellt ist, oder Trauer, dass etwas verloren ging, was wir gebraucht haben. Wenn wir Liebe probehalber als Gefühl verstehen wollen, dann würde sie uns verraten, wie es um unsere Beziehung(swünsche) zu jemand oder etwas steht – und eine solche Sichtweise könnte auch die verschiedenen Arten und Intensitäten von Liebe abdecken: erfüllte oder unerfüllte Liebe, einseitige oder gegenseitige Liebe …
Falls Sie Liebe für gaanz wichtige Beziehungen reserviert haben wie Partnerschaft oder Eltern-Kind-Beziehungen und es Ihnen einfach gegen den Strich geht, auch eine therapeutische Beziehung für soo wichtig zu halten oder die „Verwandtschaft“ der einen mit der anderen Liebe zu erkennen, kann ich das sehr gut verstehen. Es gibt ja auch Menschen, die es sehr komisch bis abstoßend finden, wenn andere Zeitgenossen mit Bezug auf Hund oder Katze von Liebe reden. (ich habe meine Meinung dazu irgendwann geändert :-)) Vielleicht erscheint Ihnen die Liebe per se als etwas Unheimliches, zumal das dazugehörige Verb LIEBEN heißt. Stattdessen könnten Sie aber auch so etwas sagen wie „gern haben“ oder „mögen“, was einen etwas unverbindlicheren und harmloseren Klang hat. Tatsächlich sagen viele Therapeut*innen zu Ihren Patienten in Fällen, wenn es um die Stärkung oder Betonung der Beziehung geht: „Ich mag Sie …“ Und dann … nein, dann kommt kein ABER, weil Therapeuten das nicht mögen, sondern ein UND; nur würden viele Außenstehende es als ABER interpretieren.
Jedenfalls sehe nicht nur ich die therapeutische Beziehung als eine Liebesbeziehung auf Zeit (und ohne Sex, vielleicht sollte man auch dies frühstmöglich sagen). Wir müssen davon ausgehen, dass beim allergrößten Teil unserer Klientel die Befriedigung der wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse in der Kindheit – Bindung, Autonomie und Gesehenwerden (Anerkennung, Respekt) – defizitär war und dass dies sich bis ins Hier und Jetzt auswirkt, egal wie alt er/sie mittlerweile ist. Fast alle benötigen daher eine Form von „Nachnähren“ und müssen lernen, zunächst diese Nahrung überhaupt annehmen zu können (weil es ja nicht die primären Bezugspersonen sind) und parallel dazu lernen, sich selbst nachzunähren. Da geht es m.E. um Liebe, auch wenn das in der Tat sehr unwissenschaftlich klingt.
In der Therapie können Patienten neue Beziehungserfahrungen machen, und damit sie diese ernst nehmen und damit diese Erfahrungen ihre Art verändern, wie sie ins Leben gehen, muss die Beziehung wichtig und stimmig sein im Sinne von liebevoll. Es mag schon sein, dass wir als Therapeuten auch mal etwas beim Patienten bewirken, wenn wir beide uns nicht mögen oder eine Seite die Liebe der anderen nicht erwidert, aber dann sind das Ausnahmen, die zudem von bestimmten Kontextbedingungen abhängen (z.B. Gruppensetting und/oder wenn wir zwei oder mehr Therapeuten sind).
Wenn Therapie eine Liebesbeziehung ohne Sex und begrenzt auf einen Zeitraum ist, kann sich diese Beziehung auch, aufgrund von Nähe, Vertrautheit, Intimität wie Fremdgehen anfühlen – für die Patient:in, und für ihre(n) Partner(in). So kommt es, dass manche von diesen Partnern, die zunächst vielleicht sogar darauf gedrungen hatten, dass ihr(e) Liebste(r) endlich Therapie macht, nach und nach gemischte bis aversive Gefühle entwickeln. Auf jeden Fall stellt die therapeutische „Nebenbeziehung“ eine Herausforderung für die Lebenspartnerschaft dar, dies wird leider oft zu wenig explizit besprochen. Das kann man häufig nach Klinikaufenthalten in der Nachsorge feststellen: Partner sind sich fremd geworden – nicht nur, aber auch weil es „dort“ wichtige andere Beziehungen gab. Wir können natürlich auch fragen, wie es eigentlich für den Therapeuten ist. In der Regel hat er oder sie mehrere bis viele Patienten und kennt das „Spiel“ von Annäherung und Loslassen quasi als tägliche Übung (übrigens nicht zuletzt aus der eigenen Therapie in der Patientenrolle), insofern ist die Ausgangslage eine andere. Vielleicht kann ich daher z.B. besser damit umgehen, dass der (die) Patient:in mich offenbar (noch) nicht mag. Und vermutlich habe ich am Ende weniger Probleme loszulassen.
Welche Konsequenzen ziehen wir aus diesen Erkenntnissen? Wählen wir Patienten nach „Liebe“ aus oder versuchen wir sie loszuwerden, wenn es nicht klappt mit der Liebe? Es gibt Kolleg*innen, die nach vielen Jahren und manchen zähen Erfahrungen sagen: „Ich nehme nur noch Patienten, die ich sympathisch finde.“ Den Luxus konnte ich mir ambulant und kann ich mir auch in der Klinik nicht leisten, und ich will es auch gar nicht! Gerade in der Therapie halte ich es für heikel, der ersten Sympathie zu viel Vertrauen zu schenken. (Zugegeben, ich halte auch sonst nicht so viel von der Liebe auf den ersten Blick …) Obwohl es sehr wichtig ist, authentisch zu sein, glaube ich, dass man jeden Klienten und jede Klientin lieben kann, das ist eine Frage der Haltung, der Übung und der Zeit. Man kann es spirituell angehen und das Göttliche in jedem sehen, aber auch ganz pragmatisch und erstmal die Akte lesen bzw. sich in die Anamnese knien.
Liebe heißt etwas zu riskieren. Der Patient gibt Vertrauensvorschuss und wir geben, ohne dabei unauthentisch zu sein, so etwas wie Liebesvorschuss. Solange es mir noch nicht gelingt, mein Gegenüber zu lieben, solange arbeite ich noch nicht im engeren Sinn therapeutisch mit ihm oder ihr, sondern bemühe mich weiter um einen liebevollen Zugang. Manchmal kann ich sogar über meine Schwierigkeiten, in liebevollen Kontakt zu kommen, mit dem Patienten reden und es gelingt uns auf diese Weise mehr Nähe herzustellen. Ich habe jedenfalls gelernt, auch bei der Liebe geduldig zu sein – und gestehe dies erst recht den Patient*innen zu. Wer könnte Vorbild in Sachen „lieben heißt etwas riskieren“ sein, wenn nicht ich als Therapeut.
Liebe – Angst – Risiko
Wenn ich auf Dich zugehe, weichst Du zurück.
Wenn ich mich öffne, kannst Du mich nicht mehr ernst nehmen.
Wenn ich Dir nahetrete, ziehe ich Deinen Zorn auf mich.
Vor meiner Scham kann ich nicht davonlaufen.
Alles wird kompliziert.
Ich fühle mich klein.
Nichts bleibt.
Es bleibt: Was ich mir bewahre.
Ich darf: mich mal klein fühlen.
Einfach: nicht besser als komplex.
Scham kann angemessen sein, völlig okay.
Schön, deine Gefühle sehen und zu meinen stehen.
Mich ernst nehmen, auch das zählt.
Wenn ich auf Dich zugehe.
(PS. Mit der „gerechten Verteilung“ der Liebe in der Gruppentherapie befasst sich der Beitrag Liebling.)